Der Krieg in der Ukraine beeinflusst, wie wir dein Buch und die Figur des Gastes lesen. Der Gast, ein Geflüchteter?
Als ich die Idee für «Die Aufdrängung» erstmals hatte, waren die sogenannte «Flüchtlingskrise» und der Krieg in Syrien hochaktuell. Für mich war es deshalb von Anfang an unmöglich, den Gast nicht auch als potentiell flüchtende und geflüchtete Person zu betrachten. An der Figur des Gastes – nicht nur an meiner, sondern auch grundsätzlich – öffnet sich ja immer beides: es gibt eine alltägliche Gastlichkeit, doch gleichzeitig wird der politische Gast oder die Gästin auch mitgedacht.
Es ist schon heftig, wenn ein Kontext wie aktuell der Ukraine-Krieg den Text nochmals stark verändert. Als Schreibende muss man auf diese Veränderung vorbereitet sein, das habe ich auch schon bei einigen Theaterstücken von mir erlebt. Bei Lesungen merke ich nun, dass dieser Text total in Bewegung ist. Denn das Reden über Gastfreundschaft und die notwendige Gastfreundschaft ist bei den Leuten dringlicher geworden, was den Zugang zu meinem Buch sicherlich erleichtert.
Dass ein Text in Bewegung bleibt, kann man vielleicht auch begünstigen: in der Form, wie man schreibt, welche Themen man reinnimmt und wie offen man den Text anlegt. Es gibt auch Werke, die eine enge psychologische Handlungsführung haben, die es schwer zulassen, mit der Gegenwart zu korrespondieren. Doch wie das Jetzt auf einen Text zurückwirkt, das interessiert mich sehr.
Du beschreibst im Buch auch den Moment, in dem die Gastfreundschaft in Feindseligkeit kippt. Dann, wenn der Ausnahmezustand vorbei ist, und der Gast nur noch als Parasit wahrgenommen wird.
Es ist natürlich die Frage, ob es im Text überhaupt eine Form von Gastfreundschaft gibt. «Die Aufdrängung» ist eher durchzogen von einer Gastfeindschaft, die sich als vermeintliche Gastfreundschaft tarnt. Die Gastgeberschaft widerspricht ja allen Regeln der Gastfreundschaft.
Wenn man zurückblickt auf den Krieg in Syrien gab es in Deutschland so etwas wie eine «Willkommenskultur», in der Schweiz vielleicht weniger, aber den Begriff gab es zumindest. Das Helfertum hat sich nicht lange gehalten und man sah nach ersten Problemen schnell wieder eine fremdenfeindliche Gesellschaft. Ich wünsche mir sehr, dass man auch etwas gelernt hat aus diesen Jahren.
Als ich mit der «Aufdrängung» begonnen habe, war ich selber sehr oft zu Gast. Ich übernachtete oder wohnte wochenweise bei Leuten, die ich gut kenne. Bei diesen Besuchen habe ich gemerkt, dass allein durch mein Eintreten in den Alltag einer anderen Person etwas passiert, ohne dass dies jetzt konfliktreich sein oder ums Ganze gehen muss. Dieser Moment, dieser Einbruch, der alles verändert: das hat mich interessiert. Und ich wusste, dass ich unbedingt etwas über einen ungebetenen Gast schreiben will, oder einen Gast, der nicht mehr weg geht.
Zu Beginn habe ich mir vorgestellt, dass die Aufdrängung vom Gast ausgeht. Mit der Zeit hat sich das aber gedreht, und die Aufdrängung geht in meinem Buch nun hauptsächlich von der Gastgeberschaft aus.
Im Text, der sehr offen angelegt ist, zuweilen auch fragmentarisch und kleinteilig wirkt, tauchen wiederkehrende Motive auf. Die Staubsaugerrüssel beispielsweise, die in einem Zimmer hausen und dort ein Eigenleben führen.
Vielleicht kann man es sich wie in der Musik vorstellen. Ich habe ein Thema, das natürlich mit sehr vielen anderen Themen verbunden ist. Ich schreibe eher in die Breite und lasse mich vom Moment lenken, von Dingen, denen ich im Alltag begegne und die dann zu meinem bereits verfügbarem Material passen. Es ist ein assoziatives, vielleicht auch diskursives Schreibvorgehen. Damit können aktuelle Geschehnisse den Text mitprägen. Ich entdecke dann auch Motive, die ich cool finde, und die ich schliesslich immer wieder auftauchen lasse, in verschiedenen Variationen und Kombinationen.
Wie hast du zum Schreiben gefunden?
Seit ich schreiben kann, schreibe ich. Ich habe ein sehr grosses Frühwerk, ein Kindheitswerk: Ich habe Tagebuch geschrieben, aber auch Gedichtbände und als Zwölfjährige einen Roman, «Ostertränen» heisst dieser. Mehrheitlich sind diese Dokumente noch vorhanden, und ich habe auch den Wunsch, etwas aus diesem Archiv zu machen.
Gibt es in diesem Kindheitswerk Motive, in denen du dich noch erkennst?
Nein, nicht direkt. Es gibt aber eine Kurzgeschichte, die ich mit sechs oder sieben geschrieben habe und in der – wie die Staubsaugerrüssel in der «Aufdrängung» – Sachen und Dinge belebt werden. In dieser Geschichte geht es um eine sprechende Pistole. Es ist eine Mischung aus einem Märchen und einer sehr brutalen Räubergeschichte. Die Pistole, die spricht, lernt im Laufe der Geschichte eine Pistolenfrau kennen, und am Schluss schiessen sie sich tot. Aber nicht gegenseitig, sondern sie bringen sich beide selber um.
An diese grosse Anziehung und Abstossung zweier Pole kann ich auch heute noch anknüpfen. Aber gleichzeitig ist mir dieser Text schlicht ein grosses Rätsel und ich frage mich dann: «Wow, ich habe keine Ahnung, was ich da gemacht habe». Denn wenn man zurückschaut auf das Kind, das man einmal war, merkt man auch, dass man sich eigentlich gar nicht richtig kennt. Ich kann mir dank meinen Dokumenten von damals ein Bild von mir als Kind machen, aber gleichzeitig erscheint dieses auch enorm rätselhaft.
Im Gymnasium wusste ich, dass ich etwas mit Kunst machen möchte. Das Schreiben lag mir dabei fast zu nahe, das machte ich eh schon immer. Ich wollte etwas Zusätzliches, und da ich auch Theater gespielt habe, wusste ich, dass es innerhalb dieses Gebildes sein sollte. So studierte ich Kunst, weil ich dachte, dass ich so meine Interessen am besten verbinden kann. Erst während dem Studium begann ich, fürs Theater zu schreiben. Ich gründete die Gruppe GKW mit zwei Freunden, wir machten freie Produktionen in Basel und Berlin, und so fand ich Zugang zum professionellen Schreiben. Ich schrieb Performance-Texte mit Sarina Scheidegger, die wir auch selber inszenierten. Es entstand viel in Zusammenarbeit, wir setzten auf kollaboratives Schreiben. Mit der Gruppe bedeutete dies, dass wir das Konzept gemeinsam erarbeiteten, für den Text war ich dann meist verantwortlich. «Die Aufdrängung» entstand jetzt so richtig allein.
Was bedeutete dieses Alleinschreiben für dich als Autorin?
Ich war es nicht gewohnt, dass ich so stark die Rolle der Vermittlerin zwischen Werk und Öffentlichkeit spielen muss. Das hat vielleicht auch mit der Sparte Literatur zu tun. Oder mit dem Medium Buch. Es erschienen früher bereits Medienberichte über unsere Arbeiten, aber in der bildenden Kunst oder im Theater war es viel weniger gefragt, was wir denn dazu denken. Das waren Theaterkritiken oder Interviews mit der Gruppe. Wenn ein Buch erscheint, wird man in der öffentlichen Wahrnehmung sehr verbunden mit dem Werk. Das finde ich natürlich spannend, aber manchmal ist es auch anstrengend oder schade. Denn ich bin nicht immer die beste Person, um über das Buch Auskunft zu geben.
Der grosse Unterschied zu einer Gruppenarbeit ist natürlich, dass ich die ganze Verantwortung trage. Manchmal fehlt es mir auch, dass man diese teilen kann, oder sich zu zweit oder zu dritt verbünden kann.
Ich nehme an, Suhrkamp als Verlag, als Label, verstärkt das Interesse der Öffentlichkeit an deiner Person.
Ja, da wird man direkt zur Schriftstellerin und ins Hochbürgertum hinauf katapultiert, ha. Aber ich habe zuvor noch nie etwas gemacht, das so viel Resonanz erhalten hat, was sicherlich auch mit dem Verlag zu tun hat.
Vor der «Aufdrängung» war ich in der Literaturszene und den Literaturhäusern kaum unterwegs. Der Vibe dort kann starr und elitär sein, doch ich erlebe auch sehr lustige Lesungen. Was mich aber positiv überrascht hat, ist, dass immer noch sehr viele Leute lesen. Im Gegensatz zum Theater, wo sich die verschiedenen freien Szenen und das Stadttheater nicht vermischen, ist Literatur keine Nischensparte. Ich merke dann, dass sehr unterschiedliche Leute aus verschiedenen Generationen mein Buch lesen oder bereits gelesen haben. Es gibt ältere Personen, die sehr gut an «Die Aufdrängung» anknüpfen können, oder auch Leute aus der Kunstszene.
Ich bin auch immer wieder überrascht, wie verschieden die Leute das Buch lesen, je nachdem, wie man sich auf den Text einlässt. Die grösste Diskrepanz ist immer noch diese: Einige Leser:innen sagen: «ich bin fast gestorben vor Lachen». Andere sagen: «Hä, lustig? Das ist doch todernst.» Am meisten mag ich aber einfach, wenn das Buch eigene Bewegungen auslöst.
Hast du beim Schreiben eine Art Arbeitsroutine?
Ich habe nicht wirklich eine Routine, doch am besten schreibe ich sehr oft im Dazwischen, in der Beiläufigkeit – und ich die nötige Lockerheit habe. Dann, wenn ich im Zug reise, oder wenn ich extrem viel zu tun habe, und eigentlich etwas anderes machen sollte. Das kennen ja sehr viele Künstler:innen.
Ich fahre auch ganz gerne weg, bewege mich zwischen den Orten, denn ich kann nicht so gut lange an einem Ort bleiben. Diese Bewegung hilft mir, denn in der Bewegung schreiben ist immer recht gut. Was ich nicht gut kann, ist leiden. Schreiben ist bei mir immer mit einer Lust verbunden, einer Lust, mich auch selber zu unterhalten. Schreiben ist für mich mit keiner Schwere oder einem Zwang verbunden. Natürlich stehen bei einer solchen Textarbeit dann auch die Lektoratsarbeiten an, in denen man die Sachen festzurren muss, das ist dann schon ein bisschen mit Leiden verbunden, denn ich neige zum Überbordenden. Zum Glück habe ich einen tollen Lektor, der übernimmt dann auch viel für mich. Manchmal liegen die Entscheide über Details auch bei mir. Helvetismen waren bei der «Aufdrängung» ein Thema, und diese Geduld, über einzelne Wörter zu diskutieren, fällt mir eher schwer.
Wie arbeitest du zurzeit?
Mein Fokus liegt derzeit auf der alleinigen Schreibarbeit und ich schleppe einen zweiten Koloss, also einen zweiten Roman, mit mir rum, auch weil ich die Lücke nach der «Aufdrängung» füllen wollte. Und ich habe Gefallen am Medium Buch und an der Prosa gefunden.
Doch das ist kein Abgesang an die Zusammenarbeit, es ist bloss eine Schwerpunktverschiebung. Denn gleichzeitig entstehen immer noch Projekte im Verbund: Gemeinsam mit einer Theaterautorin habe ich eine Initiative lanciert, die mehr Sichtbarkeit von älteren Frauen an Theatern – auf den Bühnen, aber auch hinter den Bühnen – fordert. Wir haben gemeinsam eine Art theatraler Text über das Altern in der darstellenden Kunst für ein Buch verfasst.
Manchmal vermisse ich den kollaborativen Prozess auch, weil ich den jetzt nicht habe. Aber als ich an der «Aufdrängung» geschrieben habe, hatte ich immer das Gefühl, dass ich um den Raum und die Zeit kämpfen musste, damit ich meinen eigenen Text realisieren kann.
Während der Arbeit an der «Aufdrängung» gab es immer wieder Momente, an denen ich den Text ausgedruckt, auseinandergeschnitten und neu zusammengesetzt habe. Und meine Textsammlung in eine sinnvollere Abfolge zu bringen. Das führte dann bis zu Verschiebungen von gesamten Sets und Handlungen.
Im Buch taucht etwa auch die Figur Laurenz auf. In Laurenz spiegeln sich verschiedene Dinge aus der Kindheit der Gastgeberin: Das kann ein Trauma sein, aber es ist auch wie eine Frühbegegnung mit Nähe und Distanz und Berührung. Vielleicht ist es auch Liebe oder Freundschaft, sicherlich aber eine nahe Beziehungsform. In den meisten Gesprächen über die «Aufdrängung» kommt man gar nicht bis hierhin, weil die grossen Themen – Gastfreundschaft, Gastlichkeit – dominieren. Vielleicht könnte man «Die Aufdrängung» als Liebesgeschichte lesen. Aber ja: Liebe ist so ein leeres Wort, deshalb bezeichne ich «Die Aufdrängung» doch nicht gern als Liebesgeschichte. Aber es geht sicherlich um das ganze Spektrum an Hass und Anziehung, dieses Aushandeln und Aneignen, das immer in Bewegung ist.
Was ich mag
«Adams Tagebuch» von Mark Twain, Adelheid Duvanel, Muskatnuss – und aktuell «SMAK» von Khavn.
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