Hier hat alles begonnen mit der Fährtenlegung, die an so viele erst unbekannte und seither immer wieder besuchte Orte geführt hat. Chien Mon Ami sind die Cellistin und Bassistin Naomi Mabanda und Benjamin Taillard an Synths und Drummachines (und Mikrofone für ihre singing voices haben sie in La Chaux-de-Fonds auch). Es ist streunende Musik, die durch die Nebel und die Nächte führt, mit ungeschliffenen Dream-Pop- und Post-Punk-Vignetten. Es ist der perfekte und auch optimistische Startsoundtrack für eine so kuriose wie fordernde Reise. Weil wer wusste schon, was nach dem Januar 2022 noch alles folgte?
«Toelesoele Toede Taris Soedetan Noeneja Pe» heisst der erste Track dieser Platte. Wie man das ausspricht? Die Nadel gleich auf die erste Rille setzen, und Du wirst es hören, schreiend deklamiert, so, wie auf diesem Album, eingespielt von Nikola Jan Gross am Saxofon, Valentin Baumgartner an den Gitarren und Janic Haller an den Drums, überhaupt das laute und das schroffe Spiel den Ton angeben. Neben den Ausrufen gibts auch viel Raum für Fragen, vorab auf der B-Seite: «Wer regnet?», heisst einer der Tracks – und auch: «The limits of control», die einen auch traurig und zerstört zurücklassen. Denn diese Aufnahme ist eine der letzten, auf dem wir den so widerspenstig wie originär spielenden Valentin, der im Sommer 2021 in den Bergen tödlich verunglückt ist, hören dürfen. Im Text zum Album, das mit einer tanzenden und viel zu kurzen Arabeske endet, heissts: «And suddenly it’s quiet – take care, you improbably glowing little hippie.»
Es ist früher Frühling in Brandenburg. Zeit, einen Chor zu gründen und einfach mal gegen die Angst zu singen, während Elon Musk an seiner Fabrik baut und abseits der Natur alles zu Grunde geht. Carebender – so nennt sich der achtköpfige Chor um Zooey Agro – singen gegen das Desolate an, in süssen Harmonien, wenn sie den Vögel zuhören, hässig in «Hands», weil nur flüchten geht ja auch nicht, aufrührerisch und zersetzend in «Spiller» oder zögernd-wagemutig, wenn sie durchs sumpfige Wasser waten. Spätestens in diesem Gospel der Utopien und des Widerstands wird klar: Wenn in dieser Serie über die Liebe gesprochen wird, werden immer auch Möglichkeiten und Strategien der Befreiung verhandelt. Und sei es nur, um stille Plätze zu finden, wo man ungestört den Tieren, die im eigenen Kopf singen, zuhören kann.
Weiter raus, weiter laufen, aber dieses Mal nicht durch die Vogelwälder, sondern durchs Val Blenio, das von den Touristikern des Landes als «Tal der Sonne» bezeichnet wird. Der Schlagzeuger und Soundartist Simon Berz hat sich dorthin abgekapselt, und in der Abgeschiedenheit diese alles andere als sonnendurchflutete Musik ersonnen. Erwartungen? Eigentlich viel Noise, aber weil hier keine Erwartungen erfüllt werden, lebt sein Serienbeitrag von Slow-Motion-Drumfiguren, von unruhigen, doch genau gebauten Sounds und von tektonischen Verschiebungen innerhalb der vier langen Tracks. Eine sehr lohnende Wegzehrung für verschiedenste Lebensabschnitte.
Jetzt aber: abheben. Denn Nelly Schweiz grüssen gleichzeitig Nelly Diener – die erste Flugbegleiterin in Europa, die 1934 bei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam – wie auch Nelly Furtado mit Free-Noise-Rock-Überschreibungen ihrer Songs «Maneater» und «No Hay Igual». Alles ein Witz? Natürlich nicht. Denn Dimitri Krebs, Nico Sørensen, Nicola Habegger und Tapiwa Svosve reisen vor dem lauten Geisterbahnende durch verschiedene Stadien an Härten und Weichheiten. Nur sicher ist in dieser lauernden Musik nichts. Auch nicht der zärtlich-fragende Song-Schluss der A-Seite, bevor man sich auf der B-Seite dem Strom überlässt. Eine der schönsten Sternschnuppen, die nur dank dieser Serie möglich gewesen ist.
Wo bewegen wir uns hier? FC Goa hinterlässt keine Namen oder andere Urheber:innenspuren. Im Text zur LP dienen als Ortsangaben immerhin Kopenhagen und der Berner Europlatz, aber dazwischen ist ja alles möglich. Deshalb einmal mehr: die Nadel aufsetzen (oder Play drücken), jemand bläst in ein Horn, eine andere Person jodelt los, sie lachen, und die Collage geht richtig los: wie ein Drone, mit feinem Geklöppel, mit perkussivem Tribal-Überhang. Und dann, fast perkussionslos auf der B-Seite, mit einer hohen Stimme und einem immer dringlicher werdenden Alarmsound. Nach dem Klimax: Dialogfetzen, Noises, Schreie. Hier bleibts gefährlich, bis ganz am Schluss. Und man setzt sich dieser Gefahr sehr gerne aus, wo immer hier wir auch sind.
Eine weitere Geschichte, eine, die man gleich im Anschluss an die vorherige Folge der Serie hören kann. Dave Jegerlehners erste Veröffentlichung mit seinem neuen Alias Hora Lunga geht keine Begegnungen ein, die Sounds und Pianoakkorde klingen vereinzelt, eisig und suchend. Hat sich gar Burial auf diese LP geschlichen? Denn es klingt ähnlich konzentriert, ähnlich desolat und vor allem auch: ähnlich bewegend, bis sich die Pianofiguren zerstäuben, auflösen, und in die lange Stunde hinausziehen. Oder auch im Locked Groove der Auslaufrille für Ewigkeiten gefangen bleiben.
Nebel ziehen auf, und sie können so dicht sein, dass vor der Vermessung der Meteorologie mächtige Hörner nötig waren, um Schiffe notdürftig vor dem Zerschellen mit schroffen Küsten zu warnen. An diese Nebelhörner von einst, deren Geschichte Jennifer Lucy Allan in ihrem Buch «The Foghorn’s Lament» so eindrücklich erzählt hat, erinnert der Akkordeon-Drone, den Rea Dubach für ihren Serienbeitrag im langen Stück «Kannon» aufgenommen hat. Nach der Durchdringung des Nebels wirds heller, aber Stimmen finden sich nirgends. Denn manchmal liefert das Atmen eines selten gespielten Instrumentes die besseren Übersetzungen und Beschreibungen der eigenen Launen und der Unwägbarkeiten des Lebens. Ausatmen.
Tracks ohne Grenzen auf ein analoges Format aus der Vergangenheit zu pressen, kann für Menschen, die ihre Musik auf digital denkenden Konzeptlabels wie Raster:Noton veröffentlichen, befremdend oder herausfordernd wirken. Oder beides gleichzeitig: Milian Mori aus Bern hat sich dieser Aufgabe gestellt und für diese LP einen Track in zwei Teile zerschnitten. Aber am besten wirkt seine Antwort auf die «What We Talk About»-Frage, wenn man das im Kontinuum anhört, mit den Holzperkussionsblöcken, die wie ein Zeitstempel wirken, mit den Sounds, dank denen die Schacheröffnung E2-E4 in aller Ruhe, aber mit Aussichten auf den grossen Rave, geprobt werden kann.
Rückzug nach Poschiavo: Catia Lanfranchi, Sängerin und Songwriterin der Band Kush K, hat dort diese Musik aufgenommen, die trauert, die nach Erinnerungen gräbt, Halt sucht, Abschied nimmt. Was ich höre? Die Luft, die durch die Orgelpfeifen entströmt und zur Geisterbeschwörung lädt, fragile Mondsongs, Stille auch. Auf der Albumhülle steht: «A last goodbye as a reminder that there is no last goodbye.» Und dann: Tränen.
Keine Band schien in den letzten Jahren öfters unterwegs zu sein als Omni Selassi, die Band von Rea Dubach, Mirko Schwab und Lukas Rutzen. Als dann endlich ihr Debüt «Dance Or Dye» im Herbst 2022 erschienen ist, folgte nur einige Woche später dieses verrückte Ding, mit «Blue Velvet»-Jingles aus dem Autoradio, Hyperpop-Collagen, Remixes wie von ihrem Paralleluniversum-Welthit «Cashew Carry» und Hörspielstimmen, bis die Plattennadel über die Rillen springt. Dieser Beitrag hier: ein unaufgeräumtes, superkollidierendes Mixtape, das viele Zeiten überdauern wird und von einer Band erzählt, die ständig auf unabsehbaren Achsen surft.
Die Serie erzählt von Musik aus der Schweiz, sie erzählt aber auch vom Netzwerk rund um das Label, das sich längst nicht nur auf die Grenzen dieses Landes beschränkt. Zu diesem zählt die in Beirut lebende Nadia Daou, die die Hochspannungen des Alltags in vier Stücken übersetzt. Die Perkussion, die die ersten beiden Tracks bestimmt, gerät auf der B-Seite ins Flirren und Flimmern, sie wird härter, verzerrter, bedrohlicher auch, bis zur Zuspitzung, so dass die Explosion nur eine Frage der Zeit scheint. Aber eben: Naheliegendes und einfache Kommentare werden auch von NÂR umschifft, vielleicht auch, weil in Beirut alles Einfache zurzeit allzu lebensfremd ist.
Hier könnte nun eine versöhnliche Schlussserenade folgen. Ein Schlussakkord, der alles versöhnt. Aber es hätte sich als Hörer:in falsch angefühlt, wenn diese Serie in einem sorgenfreien Schluss ihr Ende gefunden hätte. Und so passen die industriellen Noise-Clips, die Sax-Sounds, die zerhackten Drum’n’Bass-Beats und all die anderen Verzerrungen von Tapiwa Svosve und Steve Buchanan bestens. Ein Witz bringen sie mit der Easy-Listening-Radiostimme, die den Satz «The subject is Jazz» sagt, gleich zu Beginn unter, denn Jazz, wie das in den Büchern steht, gibts selbstredend keinen zu hören. Warum dieser Satz aufblitzt? Vielleicht, weil diese kurze, unformatierte LP eine Erinnerung daran ist, dass Jazz je nach Spielart und Interpretation die radikalste Protestmusik sein kann. Bleiben die Schlussworte, die auf der Hülle aufgedruckt sind: «We say ciao. We are broke, tired, happy. Thank you.»
BlauBlauRecords
Das Label BlauBlau Records hat seit Anfang 2022 monatlich eine Überraschungs-LP an die Abonnent:innen ihrer Plattenserie «What We Talk About When We Talk About Love» verschickt. Wie die Serie entstanden ist, ist hier nachzulesen.
Wer lieber direkt hören will: Für Radio Bollwerk spielten Rea, Mirko und Dave direkt nach dem splatz.space-Gespräch ein Set, ausschliesslich mit Musik aus dieser Serie. Zum Set gehts hierlang.
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