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«Das Hauptprinzip ist
das radikale Teilen»

Eva-Maria Bertschy

Bevor ich nach Palermo gezogen bin, habe ich lange in Berlin gewohnt. Berlin war für mich eine Art Basis, von der aus ich ganz viel gereist bin. Ich habe in Brasilien, Süditalien und mehrmals im Kongo gearbeitet. Als die Pandemie losging, war ich dabei, mit Milo Rau in Brasilien «Antigone im Amazonas» zu machen. Wir haben mit den Proben begonnen und wollten loslegen, als man uns gesagt hat: «ihr müsst unbedingt zurück, die Grenzen schliessen». Zurück in Berlin dachte ich: Okay, das geht jetzt so nicht mehr weiter, mein Leben. Ich kann in Zukunft nicht mehr so viel rumreisen wegen der Pandemie, aber auch, weil sich die Bedingungen verändern und wir nicht mehr so viel reisen sollten, um unser Klima zu schonen. Also musste ich einen Ort finden, wo ich wohnen und mich lokal engagieren und arbeiten kann.

Weil es in Berlin schon so viel gibt, hat es mich nie wirklich interessiert, dort zu arbeiten oder dem, was in der Stadt passiert, etwas hinzuzufügen. Vieles, was man in Berlin macht, ist für eine hochgebildete, zeitgenössische Elite, die eh schon am Puls der Zeit ist, die alles weiss und alles versteht. Das war mir immer schon relativ unangenehm, weil man sich mit Ellbogen behaupten muss gegen die anderen, die alle auch interessante, neue, avantgardistische Projekte machen wollen. Mir wurde klar, dass Berlin nicht dieser Ort für mich sein kann.

...

In dieser Zeit hat mich Lorenzo Marsili – ein Aktivist, politischer Autor und Kulturveranstalter aus Rom – gefragt, ob ich mit ihm in Palermo etwas aufbauen möchte. Sobald die Grenzen wieder offen waren, bin ich nach Palermo gereist und habe mich entschieden, dort meine Base einzurichten. An diesem Ort, an der Peripherie Europas, kommt so vieles zusammen. Es ist ein Ort, der ganz anders funktioniert, der zwischen Europa und Afrika liegt und in mancher Hinsicht viel näher an Afrika als an Nordeuropa dran ist. Palermo als Durchgangsort, wo viele Migrant:innen in den letzten zehn Jahren, aber auch schon vorher angekommen und oft auch geblieben sind. Denn es ist ein sehr durchlässiger Ort, an dem viele Leute Platz finden. Ein Ort mit einem Bürgermeister, der jetzt leider nicht mehr im Amt ist, aber der für Offenheit und für eine Willkommenskultur eingestanden ist, die zwar oft nur symbolisch war, aber immerhin.

In Palermo haben wir dann das Studio Rizoma gegründet, um Projekte zu machen, die lokal verwurzelt sind und Bezug nehmen auf die Realitäten der Stadt und der Lebensumstände der Menschen. Die Projekte greifen aber auch transnationale Verbindungen auf, die die Menschen aus den migrantischen Communities wie Westafrika oder Bangladesch haben. Dies ist etwas, das mich in meiner Arbeit immer schon interessiert hat: Dass die lokalen Realitäten immer auch internationale Bezüge haben, die immer schon da sind und waren. Die lange Geschichte der Migration, der Handelsbeziehungen und des kulturellen Austauschs… Das vergisst man manchmal.

Die sind alle gekommen und wir waren in diesem wunderschönen Innenhof, unter freiem Himmel.

Das erste Festival «Between Land and Sea» konnte nicht ganz wie geplant durchgeführt werden, weil Tunesien von der Pandemie viel stärker betroffen war und in einer politischen Krise steckt, die alles kompliziert gemacht hat. In diesem Kooperationsprojekt mit der Dreamcity Biennale in Tunis und dem Theater Bremen ging es um die verschiedenen Realitäten und die Verbindungen dreier sehr unterschiedlichen Hafenstädte: Tunis, Palermo und Bremen. Eine liegt im Norden Europas, eine im Süden Europas und eine im Norden Afrikas.

In Palermo haben wir Ansätze und Arbeiten präsentiert, mit einem Tanzstück, einer Performance, Musik, einem politischen Summit und einer Theaterinszenierung. Eine ganze Reihe von Aktivitäten haben im Ballaro stattgefunden, einem Viertel in Palermo, in dem ganz viele migrantische Communities leben. Da gab es einen Moment, der mich sehr berührt hat – und an dem ich gemerkt habe, was mich genau interessiert an der Kunst, am Theater oder Tanz.

Wir hatten Monika Gintersdorfer mit den drei Tänzern Carlos Gabriel Martinez (Mexico City), Alex Cephus (New York) und Pohr Cedric Kevin Bah aka. Ordinateur (Abidjan) mit ihrer Produktion «Trio. For the Beauty of It» eingeladen. Sie haben in einer Tanzperformance über die Geschichte ihrer urbanen Tanzkultur nachgedacht. Und darüber, wie Tanzkulturen über Migrationsbewegungen entstanden sind und sich gegenseitig beeinflusst haben. Wir haben dieses Stück in Santa Chiara gezeigt, einem Kloster mit einem riesigen Innenhof, wo die ghanaische Community ihre Hochzeiten und Beerdigungen oder die senegalesische Community das Ende des Ramadans feiert. Es ist ein offener, niederschwelliger Ort, an dem viele migrantische Communities ein und aus gehen. Wir haben irgendwann gemerkt, dass dieser Tänzer aus Abidjan – «Ordinateur» – in Westafrika ein mega Star ist. Er hat im Ensemble von DJ Arafat getanzt und ist einer der besten Coupé Décalé-Tänzer Westafrikas. Die jungen Leute aus den verschiedenen westafrikanischen Communities, von Ländern wie Côte d’Ivoir, Senegal oder Mali, konnten kaum fassen, dass er da so umsonst tanzt. Die sind alle gekommen und wir waren in diesem wunderschönen Innenhof, unter freiem Himmel. Während dem Stück sind Kinder mit dem Dreirad um die Bühne gefahren, ganze Familien waren da.

Es war eine ganz andere Art von Erlebnis verglichen mit der Premiere dieses Stücks am Zürcher Theaterspektakel. Das hatte überhaupt nichts mehr damit zu tun. Es war ein grosses Fest und gleichzeitig eine sehr intellektuelle Auseinandersetzung dieser drei Tänzer, die auch sehr viel Spass bereitet hat. Diese vielen verschiedenen Leute, die da zusammengekommen sind, um sich das anzugucken: Das war ein ganz toller Moment. Da habe ich gemerkt, dass es mich interessiert, in Kontexten zu arbeiten, in denen Theater oder Kunst nicht selbstverständlich sind und die Leute nicht immer schon ganz viele Stücke dieser Art gesehen haben. Kontexte, in denen man erleben kann, wie sie das neu für sich entdecken. Diese Art von Kunst- und Theaterproduktion, aber auch politischer Produktion, verfolgen wir mit Studio Rizoma weiter. Weil es auch um diesen Dialog, dieses Zusammenkommen, um das Gemeinsame geht. Um den Versuch, gemeinsam etwas zu verstehen. Wie die Dinge in der Welt zusammenhängen. Und wie lokal auch vieles zusammenkommt, das Verbindungen in die ganze Welt hinaus hat.

Es war sehr interessant, diesen Dialog zwischen Nord und Süd in Palermo zu führen – und nicht im Zentrum der Macht Europas.

Für ein zweites Festival haben wir verschiedene Künstler:innen, Expert:innen und Kurator:innen aus Afrika und Europa nach Palermo eingeladen, um über die Frage der Restitution von kulturellem Erbe und menschlichen Überresten zu sprechen. Es waren zum Beispiel Bénédicte Savoy da, die einen Bericht für Emmanuel Macron über die Rückgabe von kulturellem Erbe in Frankreich geschrieben hat und international eine wichtige Stimme mit einer sehr radikalen Position ist. Aber auch Mwazulu Diyabanza war da, ein kongolesischer Aktivist, der aus verschiedenen europäischen Museen als Protestaktion Kunst gestohlen hat, um sie dann in sein Land zurückzubringen.

Es war sehr interessant, diesen Dialog zwischen Nord und Süd in Palermo zu führen – und nicht im Zentrum der Macht Europas. Und damit an einem Ort, wo es keine grosse Sammlung an afrikanischer Kunst gibt, wo aber die vielen migrantischen Communities die Verbindung zwischen Afrika und Europa herstellen und auch Vermittler sein können in diesem Dialog, den wir unbedingt führen müssen.

...

Dieses zweite Festival ist in Kooperation mit der GROUP50:50 entstanden. Die GROUP50:50 ist ein Kollektiv von Künstler:innen aus dem Kongo und Europa mit einer etwas komplizierten Entstehungsgeschichte. Sie ist aus einer Zusammenarbeit zwischen Elia Rediger, einem Schweizer Musiker, der in Berlin lebt, Dorine Mokha, einem kongolesischen Choreografen aus Lubumbashi, einigen anderen Künstler:innen und mir entstanden. In «Hercules de Lubumbashi», einem Musiktheaterstück über zwei Kobaltminen von Glencore in Lubumbashi, sind wir der Verbindung zwischen Lubumbashi, dem Ort, wo Dorine aufgewachsen ist und der Schweiz, wo Elia und ich herkommen, nachgegangen. Wir haben versucht, die zeitgenössischen Verbindungen der neokolonialen Ausbeutung zwischen dem Süden des Kongos und der Schweiz irgendwie zu verstehen und zu erzählen. Wir haben das Stück 2019 aufgeführt und sind noch in Europa und im Kongo damit getourt, als die Pandemie begann und wir wieder mal alles abbrechen mussten. Während der Pandemie haben wir mit verschiedenen Projekten versucht, über die Grenzen hinweg diese Zusammenarbeit weiterzuführen und aufrechtzuerhalten. Weil wir auch gemerkt haben, dass unsere Kolleg:innen im Kongo in dieser komplizierten Situation sehr viel weniger – also gar keine – Unterstützung hatten.

So sind während der Pandemie, in diesem Austausch mit Dorine, ganz viele Projektideen entstanden. Als Dorine im Januar 2021 plötzlich gestorben ist – an einer Malaria oder Typhusfieber, wir wissen es nicht so genau – war das für uns alle ein Schock. Wir wussten erst überhaupt nicht mehr, was wir weitermachen sollten. Wir haben uns entschieden, diese ganzen Ideen, die eigentlich schon da waren und die wir schon entwickelt hatten, weiter zu bringen – gemeinsam mit den Leuten, die sowieso schon um diese Zusammenarbeit herum da waren. So haben wir die GROUP50:50 gegründet.

...

Im aktuellen Stück «The Ghosts Are Returning» geht es um die Geschichte eines Schweizer Arztes, der in den 50er-Jahren sieben Skelette, sogenannte «Pygmäen-Skelette», von Menschen vom Volk der Mbuti aus dem äquatorialen Wald im Kongo nach Genf gebracht hat. Er hat die Leichen dieser Menschen exhumiert und gesäubert, um die Knochen dann in der Schweiz mit einem Anthropologen aus Genf, mit Professor Sutter, zu vermessen. Er wollte herausfinden, warum diese Menschen, so klein waren. Das wurde damals schon ansatzweise als eine rassistische Praxis angesehen – und heute sowieso. Im Januar haben wir am Ort, an dem diese Skelette exhumiert wurden, mit den verschiedenen Dorfgemeinschaften gesprochen. Wir haben versucht herauszufinden, was sie gerne mit diesen sieben Skeletten machen würden. Im Musiktheaterstück erzählen wir die Geschichte von unserer Reise. Aber wir erzählen auch jene von unserer Begegnung mit den Mbuti, diesem Volk, das immer noch nomadisch im Wald lebt und versucht, Widerstand zu leisten gegen dieses globale, kapitalistische System der Ausbeutung, das mit der Abholzung des Regenwaldes im Kongobecken nicht nur den Lebensraum der Mbuti zerstört, sondern auch den unseren.

...

Die GROUP50:50 folgt einigen sehr einfachen, aber in der Umsetzung sehr komplexen und komplizierten Regeln. Das Hauptprinzip ist das radikale Teilen. Es ist zentral in unseren Arbeiten, dass alle Ideen auf einer gemeinsamen Initiative basieren und gemeinsam entwickelt und ausgearbeitet werden. Dass die künstlerische Leitung und die Produktionsleitung immer 50:50 zwischen europäischen und kongolesischen oder zukünftig auch anderen afrikanischen Künstler:innen geteilt sind. Dass immer die Hälfte der Projektgelder, oder zumindest der Honorare, an kongolesische Künstler:innen gehen. Dass die Budgets immer absolut transparent sind und für alle zugänglich und sichtbar ist, wer wieviel verdient. Dass sowohl in Europa als auch Afrika – das ist eine der kompliziertesten Regeln – gleich viele Aufführungen stattfinden. Das ist eigentlich fast gar nicht realisierbar, weil es so wahnsinnig teuer ist, im Kongo Vorstellungen zu machen und wir diese immer komplett über die Projektgelder finanzieren müssen. Aber wir versuchen neben den Aufführungen immer ganz viele Aktivitäten oder auch Workshops zu organisieren, um viele junge Künstler:innen in unseren Arbeitsprozess mit einzubeziehen.

Was wir mit diesen verschiedenen Regeln überwinden wollen, ist der Umstand, dass bisher oft europäische Künstler:innen nach Afrika gereist sind, sich da inspiriert oder einen Film gedreht haben, um es dann in Europa zu zeigen. Oder man hat für ein europäisches Publikum mit afrikanischen Performer:innen zusammengearbeitet. Es wurde immer nur für ein europäisches Publikum produziert. Was man bis heute sehr oft tut, weil man ja mit europäischen Gelder produziert.

Diese Praxis ist in einer gewissen Hinsicht eine Fortführung dieser extraaktivistischen Praxis, die während der Kolonialzeit die ganzen Ethnographen, Anthropologen und Kunsthistoriker betrieben haben. Diese sind nach Afrika gegangen, sammelten ganz viele Objekte zusammen, um sie dann in europäischen Museen auszustellen und den Leuten zu erklären, wie die afrikanische Kunst und Kultur funktioniert und wie man sie zu verstehen hat. Dabei kamen die Afrikaner:innen selber nie zu Wort, es waren immer die Europäer:innen, die die Geschichten erzählt haben.

Dass man in diesem Unverständnis, diesem sich Fremdfühlen auch eine Art Vertrautheit finden kann, in dem was ist und passiert: darum geht es, glaube ich.

Dieser Realität wollen wir mit der GROUP50:50 entgegenwirken und das bedeutet, dass wir eben sowohl für ein Publikum in Europa wie auch für ein Publikum in Afrika produzieren. Und das bedeutet für mich eben auch, dass ich eine gewisse Expertise abgeben muss in der Entwicklung des Stücks, weil ich nicht genau weiss, wie ein afrikanisches oder kongolesisches Publikum funktioniert. Weil viele traditionelle, kulturelle Referenzen, die sie einfach haben, sind mir komplett fremd.

In dieser geteilten Zusammenarbeit versuchen wir Kunst zu machen, die mit diesen Referenzen im Kongo in Verbindung ist, aber auch mit denen in Europa. Konkret: wir aus Europa sind in dieser Zusammenarbeit quasi die Expert:innen für das Publikum in Europa und die Kongoles:innen sind die Expert:innen für das Publikum im Kongo. Wir versuchen dann einen Dialog zu finden und ein Stück zu machen, das zwischen dem Kongo und Europa funktioniert und genau auf diesem Dialog basiert. So sollen diese beiden Realitäten auf eine Art miteinander in Verbindung gebracht werden, damit dieses Unverständnis schwindet, das eben am Anfang auch immer da ist … Wenn man liest, was diese ganzen Ethnologen, Anthropologen und Künstler alles so erlebt haben auf ihren Reisen in Afrika, da war am Anfang vor allem ein ganz grosses Unverständnis, ein ganz grosses Fragezeichen, weil ihnen das alles so fremd war. Dass man in diesem Unverständnis, diesem sich Fremdfühlen auch eine Art Vertrautheit finden kann, in dem was ist und passiert: darum geht es, glaube ich.

...

In unseren Stücken spielen Musik und Tanz eine wichtige Rolle. Sie ergänzen den sprachlichen Dialog durch eine weitere Sprache und bringen unsere verschiedenen Repertoires, unsere verschiedenen kulturellen Hintergründe miteinander in Verbindung und ermöglichen ein mehrdimensionaleres Verständnis. Der zentrale Punkt der musikalischen Auseinandersetzung für «The Ghosts Are Returning» ist der Tod, die Frage, wie wir mit unseren Toten umgehen. In was für einem Verhältnis stehen wir zu unseren Vorfahren, zu unseren Toten? Für uns, die in einem sehr wissenschaftlichen Verständnis aufgewachsen sind, sind diese sieben Skelette halt einfach sieben Skelette. Es sind wissenschaftliche Objekte, die irgendwo in einem Archiv liegen und die man entsprechend konservieren muss. In einer traditionellen, aber auch lebendigen Kultur sind sieben Skelette sieben Menschen, die ihre letzte Ruhe noch nicht gefunden haben, und die man deshalb unbedingt begraben muss.

Sowohl bei uns als auch in Afrika sind diese Rituale, wie man Menschen bei diesem letzten Schritt ins Reich der Toten begleitet, eng mit Musik verbunden. Das klassische Requiem ist ein Ausdruck davon, aber eben auch viele folkloristische oder traditionelle Musik aus dem Kongo hat genau diese Funktion. Das ist es, was wir in «The Ghost Are Returning» musikalisch untersuchen. Da ist es auch total interessant, einen Dialog zu finden, der eben tatsächlich ein transkultureller Dialog ist. Dabei versuchen wir einen Punkt zu finden, wo wir uns natürlich irgendwie verstehen. Weil wir zu ganz allgemeinen, menschlichen Fragen hinkommen, und damit an einen Ort, an dem alle einfach plötzlich verstehen, worums eigentlich geht.

 

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