Dort, wo vor dem Abschmelzen die Gletscher über ihn gewandert sind. Sie haben Furchen hinterlassen, als künftig einzigen Beweis ihrer Existenz. Ich habe rote Striemen an den Waden, da wo die anliegenden Socken in das Fleisch schneiden. Ich vergesse dauernd, dass ich mehr trinken sollte. Drei Liter sind gut, drei Liter am Tag, das ist gesund. Ich vergesse dauernd, wo ich herkomme. Vielleicht, weil ich von vielen Orten bin. Einen habe ich mir ausgesucht. Er heisst Bern und ist eine seltsame Stadt in einem Kanton, der den gleichen Namen trägt. Der sich in allen Belangen, Bedürfnissen und Beilagen diametral zu ihr verhält. Das gilt es auszuhalten. Dabei hilft trinken, gesund bleiben. Ich habe vergessen, wo ich hingehöre.
Die Luft trägt 28 Grad an mir vorbei, obwohl es schon spät ist in dem Schleudertrauma, das ich Tag nenne. Meine Haut ist knusprig und ich schleppe einen elf Liter fassenden Wasserkanister mit mir herum. Ich ziehe ihn auf Rädern hinter mir her. Der Sonnenuntergang schlägt durch den Stahl der Kornhausbrücke und verwandelt die dreidimensionalen Berge am Horizont in Pappaufsteller. Als wären sie Teil einer Marketingstrategie der Stadt, um für Tourist:innen attraktiv zu bleiben. Eiger, Mönch und Jungfrau, daneben ein paar weitere zerbröselte Dreitausender. Ihre weissen Spitzen recken austauschbar himmelwärts. Ich halte inne, wie jedes Mal, wenn ich über diese Brücke gehe. Das Wasser im Kanister schwippt und schwappt zufrieden vor sich hin.
Wenn ich von Zuhause erzähle, denke ich an die Berge. Die Jungfrau bleibt starr über die Nacht und durch den Tag, sie wacht über das Bernbiet. Das Licht ist, was sich verändert. Das Licht ergiesst sich über sie und in die Löcher, die meist nicht auffallen, in die man versehentlich hineinfällt. In die Löcher, die ich nicht zeichnen würde, nur als Schatten vielleicht. An manchen Tagen existieren die Berge nicht, sie verstecken sich hinter komplexen Interaktionen der Erdatmosphäre, die wir um Vereinfachung bemüht Wetter nennen. Die Gipfel sind schön, aber erdrückend, deswegen sagen wir zu ihnen atemberaubend.
Ich habe mir die Umrisse der Jungfrau eingeprägt. Ich kann sie aus dem Kopf zeichnen. Sie steht fast alleine, massiv und eisig. Eis kann ich mir in der Hitze von Bern nicht vorstellen. Die Jungfrau ist breiter als hoch, in ihr bleiben Nebelschwaden hängen, die durch die Alpen dümpeln. Aber wenn ich genau hinschaue, zu ihren splittrigen Abbruchkanten, an ihr entlang streiche mit meinen Augen, verliert alles an ihr seine Klarheit. Dann zerbricht sie, zusammen in die anderen Gipfeln, in tausend Einzelteile. Dann fängt es damit an, dass ich an ihr verloren gehe.
Ich würde gerne Steine sammeln in ihren Abhängen, eine Schatzsuche. Kristallingestein. Glitzer auf Dreck und umgekehrt. Die schönsten Steine warten in scharfem Geröll. Dort, wo die Füsse in Milimeterarbeit gesetzt werden müssen, den Boden abtastend, so dass die Schiefersteinbrösel nicht wieder zu Lawinen werden, mich mit in die Tiefe reissen.
Die Berge kommen mir von Bern aus unendlich weit weg vor. Bis Unendlich dauert es 92 Minuten mit Umsteigen im Tal mit den Klippen. In der Zahnradbahn kündigt eine Stimme in allen möglichen Sprachen Wengen an. Ich wünsche mir die Aussicht, die sich aus dem Zugfenster auftut, noch einmal mit neuen Augen zu sehen, um ihre Schlagkraft zu begreifen. Dort zieht es mich hin, zu den zähnefletschenden Gipfeln, unter tosende Wasserfälle. Ich verwechsle dauernd Heimweh und Sehnsucht, ich weiss nicht, welches der Gefühle mir lieber ist.
Es gibt Unterschiede zwischen der Stadt und dem Land und den Bergen. Die Berge sind in der Mehrzahl. Und während in der Stadt immer etwas passiert und auf dem Land nie etwas, geschieht in den Bergen immer alles gleichzeitig. Oben wird es jeden Abend kalt, oben ist es anders als unten. Abgeschnitten trifft es eben ganz gut. Abgeschnitten und einsam. Nicht das traurige Einsam, das schöne, romantische, das die Synapsen hörend spriessen lässt. Die Berge sind eine stoische Reizüberflutung, die ständige Gefahr ausstrahlen. Sie werden durchschüttelt von all den Besucher:innen aus dem Rest der Welt. Die Berge schlafen nie ein.
In der Stadt, bin ich aus dem Dorf und im Dorf, bin ich aus der Stadt. In der Schweiz, bin ich aus dem Balkan, im Balkan, aus der Schweiz. Mehrere Zuhause zu haben, bedeutet nirgends richtig dazuzugehören. Früher war es einfacher. Ich wollte in die Stadt, ich wollte aus der Stadt sein. All die Menschen im Dorf hatten offensichtlich missverstanden, was ein Leben lebenswert macht. Sie sassen da und schauten sich die Gipfel an, sagten in urchigem Dialekt uversichtig scheen, freuten sich am Alpkäse, beschwerten sich sanft und einvernehmlich über die Tourist:innen, von denen ihr Überleben abhängt. das chascht ez nid studieren. Ich dazwischen, um Unauffälligkeit bemüht und damit total auffällig. Ich hatte die Aussicht satt, die Aussicht auf Steinschutt und Wiesen und Engstirnigkeit, zu hügelig, zu bergig, zu einnehmend. Ich sprach nie den Dialekt aus der Stadt und ich sprach nie den Dialekt aus dem Dorf, ich spreche nicht einmal die Sprache meines Vaters. Überall glauben sie mir meine Sprache nicht. Überall suche ich verzweifelt nach Worten. Nur die Täler haben Ohren.
Ich habe das Kind aus dem Dorf umgebracht und gegen eine neue Identität eingetauscht. Im Dorf verstaubt sogar die Langeweile. Eingetauscht gegen eine funkelnde Stadtperson mit Interesse an Performance, Lavendelbadekugeln und der Nacht. Ich kann nicht mehr zurück, ich bin von da ausgezogen, wo andere Ferien machen. Wie im Steinbruch, abgebaut, was übrig bleibt ist Staub, der sich in Lungen fest hockt. Wenn ich heute durch das Dorf gehe, hoffe ich, dass mir die Leute ansehen, dass ich von hier bin, dass ich mich auskenne und nicht umherirre wie die Fremden, ohne Verständnis für die Berge, die nur glotzen und götzen. Die abstürzen und verloren gehen auf Wanderwegen. Zuhause bin ich nur Touristin.
Sehnsucht ist ziehend und undankbar. Sehnsucht ist ein ungeduldiges Pochen, das ruhigen Schlaf verhindert. Sehnsucht sprudelt in orangen Tönen. Heimweh hingegen ist weich eingebettet, ein helles Blau, aber schwer wie Armierungseisen in den Beinen. Heimweh ist Muskelkater im Herz.
Von der Kornhausbrücke aus sehe ich, wie sich die Stadt und das Land und die Berge in bedrohlichem Tempo voneinander entfernen. Letzte Pfeiler brechen in sich zusammen, fallen in Splitter in das Loch, das aufgeht zwischen ihnen, wie Lücken zwischen tektonischen Platten. Die Welt ist zu hart. Das Erdbeben bleibt aus. Die Kluft erweitert sich leise und flachatmig. Die Leute verstehen einander nicht mehr. Sie suchen, wie ich, nach Worten, aber finden keine, die zu ihnen selbst und für andere passen. Die Leute wollen bloss noch von den anderen verstanden werden. Ich weiss nicht, auf welcher Seite ich mich mitentfernen soll. Ich würde selber gerne von andern verstanden werden.
Ich muss ständig an die 30 Steinböcke denken, die vom Schwarzen Mönch auf das Stockhorn umgesiedelt wurden. Mit einem Lastwagen und einer Gondel von einem Tal ins andere befördert. Einige paar hundert Meter unter dem Stockhorngipfel verbrachten sie eine Nacht in einem Stall, um dann am nächsten Morgen das erste Mal ihre neue Heimat zu begutachten. Seit einem Jahr hat niemand auch nur einen der dreissig Böcke zu Gesicht bekommen. Ich glaube, dass sie zurückgewandert sind. Mit einem Orientierungssinn wie Katzen. Alle zurück zum Schwarzen Mönch. Ihnen gefiel die Aussicht im Lauterbrunnental besser. Vielleicht passiert auch mir genau das. Ich wurde umgesiedelt von mir selbst, weil ich flüchten wollte vor mir selbst, mich selber suchen musste. Das ging einfacher an einem fremden Ort. Wo ich mir nicht selber andauernd im Weg stand. Und jetzt bin ich auf meiner Wanderung zurück, Stück für Stück, ich lasse mir Zeit. Mir gefällt die Aussicht in Wengen einfach besser. Ich trinke aus einem Strohhalm einen Liter Wasser auf einmal, werde selbst zu einem Wasserfall.
Was ich mag
Janica Irina Madjar durchstreift mit ihrem Hund im Eiltempo die Berner Alpen und denkt, malt und schreibt darüber. Dabei hat sie vor nichts Angst, ausser vielleicht vor Bergtrollen und unbemerkten Schreibfehlern. Die Autorin publizierte Texte in diversen Literaturzeitschriften wie dem Denkbildermagazin oder bei zollfreilager.net. Im September erscheint «Kiosk – Ein Kaleidoskop» im Limmat Verlag, bei dessen Konzeption und Realisation sie beteiligt ist.
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