In Vevey zu leben kann gefährlich sein, denn es wirkt hier so, als wäre man immerzu in den Ferien. Der Ort ist wie ein Dorf und ist doch eine Stadt – am Samstag hat es einen Markt und du triffst immer irgendeine:n Freund:in zum Kaffee trinken, es ist wie eine grosse Familie, aber gleichzeitig hat es viele verschiedene Gruppen.
Ich kam zum ersten Mal nach Vevey als ich vielleicht 15-Jährig war, ich besuchte damals mit meiner Kunstschulklasse eine Foto-Ausstellung. Und als ich wieder zuhause war, sagte ich meinen Eltern: «Wenn ich älter bin, will ich in Vevey leben.» Als ich die Kunstschule im Wallis abgeschlossen hatte, machte ich in Vevey ein Grafik-Praktikum, ich blieb gleich hier, auch dann, als ich in Lausanne studierte. Und nun bin ich noch immer da, obwohl ich in Martigny arbeite und in Renens mein Atelier habe – nothing makes sense, I’m a bit all over the place, aber das ist okay – und ich will Vevey auch nicht verlassen. Es ist einfach ein anderer Vibe hier.
Zu Beginn von Moictani spielte ich live im Duo mit dem Bassisten Patrick Chevalley. Und jetzt spielen wir seit einem Jahr zu fünft. «Mi coche azul» ist nun so etwas wie ein Übergang, weg vom Duo und hin zur Full-Band-Version, der Beginn einer neuen Phase also. Vorher war alles viel DIY-mässiger – mit dem Sound des Drumcomputers – und auch die Songs, die ich geschrieben habe, wirkten netter und milder.
Alles ist nun «hyper différent», Moictani wirkt reifer und ist dank den zusätzlichen Musiker:innen auch gewachsen. Ich hatte auch Lust, stärker in Richtung Rock zu gehen, denn ich höre sehr viel Rockmusik, aber es ist immer noch Pop, weil ich beides sehr mag. Eigentlich liebe ich alles.
«Mi coche azul» enthält jene Songs, die ich geschrieben habe, als ich die Band bereits im Kopf gehabt habe und die wir auch schon seit einem Jahr live spielen.
Ich wollte, dass «Mi coche azul» schnell veröffentlicht wird, vite vite vite. Wir haben die Songs im November aufgenommen, das Mixing ging sehr sehr schnell und wir konnten rasch das Datum für die Vernissage festlegen. Für das musste ich kämpfen, denn es hiess, Mai sei viel zu früh. Doch jetzt ist Moictani live eine Band, und ich wollte, dass die Leute das auch hören können mit der EP. Denn wenn man nur die alten Moictani-Songs hört und dann ein Konzert von uns besucht, ist es schon ziemlich anders: Der Vibe der Songs ist zwar ähnlich, aber es ist viel dynamischer und kraftvoller.
Der erste Song «Jour de Fête» dreht sich nicht unbedingt um eine Party, sondern es geht um jene Momente, in denen man die Party ruiniert hat. Es sind diese Situationen, in denen eigentlich alles toll und voller Glück sein sollte, weil es ist ein Fest, es ist ein Feiertag, und dann wirst du von Emotionen überrumpelt, – seien es deine eigenen oder jene von den anderen Menschen – und auf einmal ist das Glück vorbei. Es ist also ein Lied über Emotionen; ich bin sehr sehr sensibel, und von totaler Freude kann meine Stimmung sehr schnell ins Gegenteil kippen. Vielen Menschen, die ich kenne, geht es ähnlich und sie verderben sich den Spass für nichts und wieder nichts. Und man fragt sich dann: «Warum rege ich mich eigentlich so auf?»
Musikalisch hatte ich Lust, etwas Kontemplatives zu machen, denn es ist ja nicht unbedingt ein cooles oder fröhliches Thema, deshalb gibts auch das lange Intro mit den Synthesizer-Sounds – das sind auch Klänge, die ich künftig öfters verwenden möchte. Die Idee war auch, einen Song zu machen, der dich beruhigt, auch wenn er um etwas dreht, das nicht sehr beruhigend ist.
«Pan con Tomate» ist das andere Extrem zu «Jour de Fête». Ich hatte einfach Lust, einen groovy Song mit einem bescheuerten Thema zu schreiben, zu dem man einfach tanzen und feiern kann. Denn ich singe ja wirklich nur: Ich mag kein Tomatenbrot zum Frühstück, bravo! Ich bin ja Halbspanierin und in Spanien lieben viele pan con tomate zum Frühstück. Es war der erste Song, den ich mit der Band im Hinterkopf geschrieben habe.
«No me gusta» ist mein Lieblingslied, weil ich schon seit Ewigkeiten einen Song machen wollte, der ein bisschen rockiger und punkiger ist. Die Leute sagen oft, ich sei eine Dramaqueen, weil ich einen starken Charakter habe. Und ich mag das Theatralische – in diesem Song kann ich schreien und auch ein bisschen schauspielern. Und das will ich auch mehr und mehr in meine Konzerte einbauen, dieses semi-absurde.
Hier in Vevey hörte ich viel Rock, Krautrock oder Punk, und deshalb hatte ich Lust, in diese Richtung zu gehen – und mich auch zu trauen, diesen Weg einzuschlagen. Die Stimme ist mein Hauptinstrument und ich kann auch ziemlich technische Sachen singen, aber ich liebe es auch, einfach hier zu sein und irgendwas zu schreien. Dieses Lied macht mich wirklich glücklich, denn ich hätte nicht erwartet, dass ich so ein Stück hinbekomme. Das ist auch die Richtung, die ich weiter verfolgen möchte, wobei ich ja sage: ich habe Lust, stärker in diese Richtung zu gehen, aber ich möchte gerne in alle möglichen Richtungen gehen. Ich will mir einfach nichts blockieren. Und es bereitet mir Freude, all diese Möglichkeiten zu haben.
«Manos de Papel» ist etwa zur gleichen Zeit wie «Pan con Tomate» entstanden. Ich merkte: das wird nun zu kompliziert, das nur mit der Rhythmusmaschine zu spielen, das geht nun wirklich in eine andere Richtung. Es ist ein Lied, das ziemlich persönlich ist. Meine beiden Grossväter starben beide im selben Jahr. Die Trauerzeremonien in der Schweiz und in Spanien waren komplett verschieden. In Spanien war der Sarg in einem Raum voller Blumen, den ganzen Tag kamen Leute vorbei, schauten diese Vitrine an. Das war so intensiv, wow, aber in Spanien ist das immer ein bisschen so. Um diese etwas seltsame, gleichzeitig auch superschöne Atmosphäre geht es in «Manos de Papel».
Eigentlich hatte ich nicht geplant, darüber einen Song zu schreiben, aber die Musik hat mich dazu gebracht. Sie hat etwas hypernostalgisches, auch kontemplatives, und ich mag es auch, wenn etwas diskret ist und man gar nicht unbedingt versteht, worüber das Lied geht. Bei «Manos de papel» sagte ich beispielsweise meinen Musiker:innen: «Stellt euch einen Zug vor, der abfährt, und eine Person winkt mit einem Taschentuch.» Ich mag das, sich die Ideen filmisch und in Bildern zu erzählen, man kann sich dann so viele Sachen vorstellen und das ist cool. Aber jetzt erzählte ich gerade ziemlich genau, um was es in diesem Song geht, es ist jetzt also zu spät…
«Monte de San Pedro» geht um einen Ort in A Coruña – in dieser Stadt wohnt meine Familie in Spanien. Der Monte de San Pedro ist eigentlich ein Hügel, wirkt wie ein Park, mit ein paar alten Kanonen, einem Observatorium. Es ist ein Ort, den ich schon als Kind gerne besucht habe – ich und meine Eltern fahren dort oft hin, wenn wir in Galizien sind.
Die Musik für diesen Song habe ich nicht selber komponiert, sondern Antoine, der Keyboarder der Band, der die ganze Zeit Musik macht. Ich weiss nicht, wie viele geniale Lieder er auf seinem Computer hat. Jedenfalls hat er mir diesen Track geschickt und gesagt: «Es wäre toll, wenn du über diese Spuren singen könntest.» Und so sang ich darüber und wir wussten, dass wir das spielen müssen, weil es so gut war. An den Konzerten singe ich in diesem Song bloss, weil hier auch noch Gitarre zu spielen, wäre für mich zu kompliziert. Und es ist zum ersten Mal, dass ein Moictani-Lied eine so lange Spieldauer hat.
Ich mag es ja, die Musik von A bis Z zu komponieren, einfach ich in meinem Zimmer mit meinem Computer. Und dann passe ich es mit den anderen an. Das ist auch ein Grund, weshalb ich dieses Soloprojekt begonnen habe. Es gibt Stellen, an denen ich zu den Musiker:innen sage: «Mach, was du willst». Und manchmal will ich auch, dass sie genau das machen, wie ich es gemacht habe. Aber ich mag es auch, wenn es so wie bei «Monte di San Pedro» passiert, und ich nur meine Stimme drüber aufnehmen muss. Mit Patrick haben wir das schon einmal gemacht, der Song hiess «Adios por la noche», er hat den ganzen Track instrumentiert, und auf dem nächsten Album gibt es dann auch ein Stück, das so entstanden ist.
Wenn ich einen Song schreibe, denke ich erst ganz zum Schluss an den Gesang – ich konzentriere mich auf das grosse Ganze. Songs wie «Monte di San Pedro» bringen mich auch dazu, mit meiner Stimme mehr technische Sachen zu wagen, mich stärker auf das Singen zu konzentrieren. Das öffnet auch neue Türen – vielleicht würde das nicht passieren, wenn ich alles selber schreiben würde und immer alles gleichzeitig machen würde.
Bei Moictani hat also auch diese Herangehensweise Platz, aber eine Band ist es dennoch nicht, denn ich habe das letzte Wort. Ich kann auch ziemlich stur sein, was meine eigenen Ideen anbelangt. Wenn ich mir etwas vorstelle, möchte ich manchmal einfach, dass es genau so umgesetzt wird, weisst du. Und ich bin nicht immer offen für Kommentare von anderen, haha. Aber vielleicht ändert sich das ja auch einmal – zumal Soloprojekte ja nur sehr selten alleine realisiert werden. Momentan aber ist Moictani mein Ding, und ich versuche das auch zu bewahren.
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Die früheren Veröffentlichungen waren Hyper-DIY, sie erschienen auf Bleu Lagon, unser Label hier in Vevey. Ich bin Vizepräsidentin des Labels, mache auch die Grafik, und wir alle sind eigentlich auch für die Kommunikation verantwortlich. Wir sind eigentlich alle Grafiker:innen, und machen alle ein bisschen was, organisieren Veranstaltungen und helfen uns gegenseitig bei den Projekten. Ich hatte früher keine Strategie und veröffentlichte die Songs einfach dann, wann ich sie veröffentlichen wollte.
Jetzt, bei Mouthwatering, ist alles super anders, alles ist sehr organisiert, sie geben mir konkrete Tipps und das hilft mir zu verstehen, wie diese seltsame Musikwelt, die ja auch ein Business ist, funktioniert. Zu Beginn hat mich das alles ein wenig gestresst, aber dann beginnst du zu verstehen, warum und wie du an deiner Musik arbeiten kannst, und so ist dieses Spiel ziemlich cool und interessant. Es gibt ja 1000 verschiedene Möglichkeiten, wie man etwas machen kann. Und ich analysiere auch sehr gerne, was Menschen machen und wie sie es machen. Und dann nehme ich das raus, worauf ich Lust habe – und dann mache ich, was ich will.
Musik war kein grosses Ding in meiner Kindheit. Ich hörte einfach, was im Radio lief, und was meine Freund:innen hörten. Meine Grossmutter hörte im Auto jeweils Flamenco, meine Mutter meist andere Musik aus Spanien. Als Teenager hörte ich viel Folk-Pop, doch erst, als ich mit 19 oder so hier nach Vevey kam, traf ich auf Menschen, die sich wirklich für Musik begeisterten. Ich hörte zum ersten Mal Punk, das hat mich so geprägt, denn ich hatte zuvor noch nie so etwas gehört. Zuvor meinte ich immer, Musik müsse immer so klingen, wie jene, die im Radio läuft… All die Bands aus der Region und der DIY-Szene hier prägten mich stark, wie etwa Sun Cousto. Ich höre auch sehr viel Pop – momentan gibts so viel tolles aus Frankreich, etwa Zaho de Sagazan – oder Rosalía oder Bad Bunny, und ich gehe an so viele Konzerte, denn ich bin sehr neugierig. Auch wenn ich denke, dass dies nicht voll mein Ding ist, gehe ich trotzdem an die Konzerte, denn ich will sehen, wie das live ist. Und ich glaube auch, dass dies sehr wertvoll ist für das, was ich mache.
Ich hatte zwar schon ein wenig Musik für mich selbst gemacht, aber Galsh war meine erste Band und damit hat es wirklich angefangen. Es war wie eine Offenbarung, mon dieu. Wir konnten gemeinsam mit Sun Cousto einen Bandraum mieten, wir haben einfach begonnen zu spielen – wir alle hatten einen so unterschiedlichen Stil, es war so cool. Momentan spielen wir aber nicht zusammen, da wir sehr verstreut leben und jede hat ihre eigenen Projekte wie Chacho &Friends, aber vielleicht rufe ich sie eines Tages wieder an und dann gibt es ein Comeback, ha.
Ich habe auch noch ein anderes Projekt, das heisst Tendinites, das hat nichts mit allem anderen zu tun, es ist einfach purer Fun: Reggaeton! Autotune! Wir singen auf Französisch und Spanisch, es ist auch performativer, wir verkleiden uns, spielen andere Rollen und es folgt nicht einfach Song auf Song. Es hilft mir, neben Moictani dieses so andere Ding mit dieser Show zu haben.
Ich hatte nun eine Weile lang keine Zeit mehr, Songs zu schreiben, ich habe jetzt einen 40-Prozent-Job, bin selbständige Grafikerin und ich habe noch das Tendinites-Projekt. Und es war auch das erste Mal, dass es eine Veröffentlichung gibt, die so konkret geplant ist und um die herum es so viel zu erledigen gibt. Vorher, als ich mehr Zeit hatte, konnte ich viel spontaner sein. Es war eher so: Hop, ich habe Lust, einen Song zu schreiben, also nahm ich mir die Gitarre und machte einfach. Nun bin ich an einem Punkt, an dem ich mir zum ersten Mal Zeit einplanen sollte, während der ich nur Musik mache. Ich frage mich aber, wie es sein wird, denn ich habe Musik immer hyperintuitiv gemacht, und ich weiss nicht, ob ich es auch schaffe, wenn ich muss. Es wird ein Experiment werden – und vielleicht gehe ich dann zurück zum Spontanen.
Ich folge jeweils eher meiner Intuition, überlege mir nicht, ob ich das noch hätte hinzufügen sollen oder nicht. Ich mache etwas, und wenn ich denke: das ist gut, sage ich: «Allez, allez, let’s go!» Selbst, wenn dann jemand zweifelt, antworte ich mit: «Nein, nein, das muss so sein» – ich bin da ziemlich stur. Das entspricht meiner Arbeitsweise, auch als Grafikerin. Ich mag es, auf meine ersten Ideen zu setzen und damit loszulegen, und studiere nicht so gerne tagelang an den gleichen Dingen rum. Ich bin einfach nicht sehr geduldig. Aber ich weiss, dass dies andere Menschen sehr gerne machen, und das ist auch sehr interessant.
Mais ouais, j’ai dit plein de trucs, je suis desolée, ha!
Was ich mag
Moictanis «Mi coche azul» ist auf Mouthwatering Records erschienen.
Moictani live: 9.5., Caves du Manoir, Martigny; 10.5., Le Romandie, Lausanne; 22.7., Paléo, Nyon;
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