Fade in. Und der Raum füllt sich mit nicht kalten, aber doch seltsam suchenden, vielleicht auch verirrten Sounds. Sie nähern sich, entfernen sich wieder, bewegen sich wieder nach vorne, gehen erneut zurück, während einer auf einem Midi-Keyboard zufällige Töne reinklimpert. Fade out. Also weiter.
Eine Gitarre jetzt, auch diese klingt solitär, aber konkreter, eine sehr dünne Stimme singt als einzig gut vernehmbare Worte den Titel des Songs: «All Fall Down», es ist wirklich recht traurig hier, und doch nicht abstossend. Ein Lichtlein scheint zu brennen, ich bleibe da, kehre auch immer wieder zurück an diesen Anfang des Albums mit dem treffend-desolaten Titel «Northern Luv Songs 4 Wen Ur Life’s a Mess».
Diese Lovesongs aus dem englischen Norden: sie stammen von Tom Boogizm, der sich hinter dem Alias Rat Heart verbirgt. Wie bereits für das leicht konkretere «A Blues» aus dem Vorjahr ergänzt er sein Pseudonym mit dem Zusatz Ensemble, als wäre das hier eine Band. Dieser supertraurige Blues, diese tröstenden Lovesongs: sie sind drone- und soundscapeartig, erinnern nur selten an herkömmliche Songstrukturen, gehen nah und schütteln durch. Vielleicht auch, weil hier einer keine Authentizitättricks und Formatierungen bemüht, weil er sie wohl gar nicht kennt. Oder sie ihm einfach radikal egal sind.
Über den Urheber weiss man – fernab seiner Heimat Wigan und den Clubs von Manchester und Salford – nicht viel. Denn Tom Boogizm gibt keine Interviews, macht sich nichts aus der Streamingökonomie (seine Musik ist gänzlich abwesend von Spotify und Co.), veröffentlicht in Kleinauflagen seine Musik auf seinem eigenen Label Shotta Tapes, legt auf und macht Radiosendungen für NTS.
Wie er aussieht? Nun, sein zerschlagenes Bleichgesicht prangte zwar auf dem programmatisch betitelten Debüt «Posh People Make Me Ill», aber in einer Fankurve oder im Pub würde es natürlich nicht auffallen. Umwege sind deshalb sinnlos, denn alles führt zu seiner Musik, zu seinen Mixes, zu seinen DJ-Sets.
Ende November 2015, so weiss es das Sendungsarchiv, spielte Tom Boogizm erstmals ein Set für NTS, jenen Londoner Radiosender mit Aussenstation in Manchester, der allerspätestens seit den Pandemiejahren eine der zentralen Plattformen für unabhängige Musik ist. Er begann diese Radiostunde mit John Cooper Clarks «Twat» («They can’t find a good word for you / But I can / Twat!»), flog zu Ravi Shankar, zu den Sun City Girls, spielte Dub und schummrige Disco-Sounds.
Wenig später wurde sein monatlicher Sendeplatz fix, die Sendung heisst seither «Robbin‘ Lobsters from Mobsters», und wer diese anwählt, weiss nie, was als nächstes kommt: Wirds ambiental? Zieht er direkt in den Club? Spielt er nur pöbelnde Punk- und Hardcore- und Rap-Tracks? Oder cruist er in den Pop-Mainstream und spielt Hits von Rihanna? Dieser Eklektizismus, so beliebig das sich nun liest, ist nie ein Gimmick, nie eine Ode an die Megamix-Nullerjahre. Denn bei aller Vielfalt sagt Boogizm: diese Musik ist nicht for everyone. Falls das zu hart gemixt ist, zu ungeschliffen? Nun, geh besser weiter zum makellosen Superstar-DJ.
Joshua Inyang, der mit dem Duo Space Afrika wie Boogizm die Strassen Manchesters neu vermisst, sagte in einem Interview über ihn: «Er ist ein Typ, der sich nicht um Ruhm kümmert, er kümmert sich nicht um Kritiken, er kümmert sich nicht darum, für eine DJ-Show bezahlt zu werden. Aber er liebt verdammt nochmal Musik.» Vielleicht bleibt er deshalb am liebsten in seiner Wohnstadt, reist nur sehr selten an Festivals wie ans Unsound nach Krakau und schickt lieber noch ein Zweistunden-Set mit Tracks von Mark E Smith über den Sender – oder stellt Freunde wie Michael J. Blood vor. Gemeinsam mit dem mysteriösen Blood veröffentlichte Boogizm letztes Jahr «Nite Mode Vol. 1», auf dem sie ihre sehr eigenen Clubmusikzugänge miteinander verbanden.
In den letzten beiden Jahren wandte sich Tom Boogizm immer wieder seinem Pseudonym Rat Heart zu, das er in seiner Sendung von Ende Dezember 2020 erstmals vorstellte. In seinen eröffnenden Grussworten an die «Ladies and Gentlemen» rechnete dieses Alias mit den DJs aus der Middleclass ab, die mit extrem verdächtigen Schuhen daherkommen und mit ihren «middle class agendas» allen Platz einnehmen. Aber hey, keine Angst, «Rat Heart is here».
Wer wie ich von diesem sturen Herz angezogen wurde, folgt ihm überall hin: durch die Kanäle Manchesters, durch fantastische Alben wie «Ratty Rids The Clubs from the Evil Curse of the Private School DJ’s» und schliesslich zu den Rat Heart Ensemble-Alben, die physisch nur noch zu Räuberpreisen erhältlich sind, aber digital via Bandcamp oder Boomkat – der ersten Shotta-Tapes-Mailout-Adresse – für lohnendes Kleingeld erhältlich sind. Und so oft «Northern Luv Songs 4 Wen Ur Life’s a Mess» auch ein- und ausfaden mag: hier ist eine Musik fernab von Kalkulationen und Businessplänen, die jedes Leben erträglicher macht, weil sie zeigt, um was es wirklich geht. Call it: das Leben.
Tom Boogizm
Die «Robbin Lobster from the Mobsters»-NTS-Sendung: https://www.nts.live/shows/tom-boogizm
Das Label: https://shottatapes.bandcamp.com/
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