Draussen ein aufbrausendes Sirren und Häckseln. «Autonome Heckendrohne», vermutete sie und versuchte, anhand der Lichtstimmung im Zimmer Tageszeit und Wetter zu erraten. Blaugrau durch die halbgeöffnete Tür, blaugrau durch die Jalousien. Die Rufe der Krähen kreisten bereits zwischen den Hochhäusern, lauthals besammelten sie sich zum Ausflug auf die Felder. Üblicherweise dämmerte sie ein erstes Mal herauf, bevor die Vögel die nahe an die Fassade heranreichenden Baumkronen verliessen. Wenn sie sich auf ihren Schlafästen vor dem Fenster sitzend einschrien, sich gegenseitig wachriefen. Aber die Heckendrohne verhiess einen bereits fortgeschrittenen Morgen.
Diese Nacht war sie wohl erst mit dem ersten Rascheln von Gefieder und Blättern vor dem Fenster wirklich weggetreten. Davor wälzte sie sich in einer wachsenden Halde aus Bettzubehör, die Kissen, Decken und Tücher türmten sich auf, liessen sich kaum mehr dienlich arrangieren, verdoppelten sich vermutlich irgendwo im Inneren dieses Nukleus aus Bett und Mensch. Auch ihre Unruhe wuchs mit, die Nerven schliesslich so reizbar, dass jeder Windhauch an den Jalousien sie aufs Neue aufkräuselte.
Es war ein Schlaf, der sich weder auf einen Traum noch auf ein vollständiges Wegtreten einlassen mochte, einer, der selbst etwas zu vermelden hatte. Schlagworte schoben sich auf gerasterten Schienen über ihr in Position, der unheilvoll wuchernde Kissenberg unter ihr muckte auf, war selbst eine Ansammlung von Ahnungen, die keine Bestätigung ertrugen.
«Unruhe, Langeweile, Ängstlichkeit!» verkündeten die Schlagworte, verschoben sich auf ihren Schienen, blieben sich gleich, wechselten nur die Position. Auf dem Rücken liegend hörte sie dem Rätsel zu. Spürte in sich die körperliche Entsprechung. Genau. Exakt. So war es. Das Ende der Nacht würde sie nicht in ein gemeinschaftliches Geschrei oder eine haltgebende Versammlung entlassen. Das Ende der Nacht kam per Heckendrohne und die Heckendrohne kam per Verwaltung und die Verwaltung schickte fast täglich Nachrichten, in denen sie die Bewohner:innen aufforderte, man möge sich doch in ihrem Hochhaus – diesem Gefüge aus Einzelinstanzen – etwas selbstverständlicher um das Gemeinwohl kümmern. Oder dass man das Gemeinwohl nun einer privaten Sicherheitsfirma überantwortet habe. Und eine Kamera im Eingangsbereich. Zur Kenntnisnahme.
Lange hatte sie sich nichts mehr gewünscht als einen solchen, von piefigen Sorgen aufgestörten Alltag. Jetzt, da er sich eingestellt hatte, begann ihr Bett sich zu verhalten wie ein nervöses Tier, schwelte Langeweile unter der Friedlichkeit und um diese nicht durch blödsinnige Kurzschlusshandlungen zu gefährden, heckte sie sich selbst in anständig gestutzte Ängste ein. Ängste, die sie mit anderen teilte, die andere verstehen und über die hinweg man sich schweigend zunicken konnte.
Draussen verhallten die Schreie des Krähenschwarms zunehmend, bald schon würden die Tiere auf den braunen Feldern vor der Stadt landen, geschlossen voranschreiten, Saatgut aufpicken. Die Heckendrohne, die womöglich ein Ziergewächs in Form brachte, verhedderte sich, röhrte auf, schrammelte noch eine Weile über den Asphalt und erstarb.
Sie machte Kafkas «Das Schloss» Teil 6 als Hörspiel auf dem Handy an. 07:16 sagte das Display und Frieda sagte, sie sei eine Bürde für K und hätte er sie bloss gelassen, hätte er bestimmt schon alles erreicht, was er wollte. Sie dachte an eigene Konstellationen, abrasive Verständigung, erschlichene Geltungsdauer, Mitfahrgelegenheiten, Selbstverkleinerung. «Unruhe, Langeweile, Ängstlichkeit!» wiederholten sich die Schlagworte der Nacht in ihr. Sie versuchte, sich auf die Stimmen des Hörspiels zu konzentrieren, wollte nochmal einschlafen. Manchmal gelang es, die inneren Schlagworte durch äussere Stimmen zurückzudrängen. Ebenfalls Stimmen, denen sie seit Jahren lauschte, die aber linear festgezurrt blieben. Ihre Schlagkraft war durch die Wiederholung abgeschliffen worden. Wie ein freundlicher Stein, um dessen bekannte Form sie ihre Finger schloss. Doch immer öfter durchzuckte sie nun der Impuls, diesen Stein zu werfen.
Seit sie dreissig geworden war, fühlte auch sie sich zunehmend abgetragen von den Wiederholungen, die in ihr und um sie herum wie verwaiste Gamefiguren an Ort und Stelle traten. Auch ihre Freund:innen drehten sich im Kreis. Keine Einzige hatte irgendetwas Erstaunliches aus ihrem Innenleben zu berichten. Vermutlich, weil dieses jederzeit durch das online gestellte Aussenleben einer Anderen ausgetrieben werden konnte. Man rang mit diesen Repräsentationen, man glaubte sie, man ordnete sich ein. Die Schlagworte verschoben sich auf ihren Schienen in der Fläche dieser verdoppelten Leben, ein Spielfeld, sagten manche. Bloss ein Feld, sagten andere. Aber alle bespielten oder bestellten es. Und egal wie, das Innenleben dünnte aus. Im Spiel oder auf dem Feld, das Sein verdorrte an seiner Avatarhaftigkeit, wurde ausgesogen von der eigenen Repräsentation. Draussen kündigte ein Warnton an, dass eine Ordnungsdrohne sich näherte, um die verunglückte Heckendrohne aufzusammeln.
Sie stellte sich unter Weiterentwicklung mittlerweile eher etwas vor, das ihr Dasein als Individualkapsel auffächern, kleinteilig ausschwärmen lassen würde, die Empfindungen nicht zementieren und Präzision nicht in der Zuspitzung suchen würde. Sie gähnte. Sogar diese Folgerung war nicht bedeutsamer, als das, was irgendein anthropomorph gut gemeinter Lebensratgeber zu sagen hatte. Vielleicht rangen sie und ihre Mitmenschen auch schlicht damit, dass sie nun offiziell eine Folgegeneration hatten. Deren Impulse, die sie sich nicht zu ignorieren erlaubten, lösten Widerstände aus, die sie sich erst recht nicht erlaubten. In einer dauernd auf ein hypothetisches Publikum zugeschnittenen Selbstverwertung begriffen, versuchten alle ihre Statements, ihr Aussehen, ihre Produkte und ihr Privatleben zu einem sinnvollen Gesamtwerk zu vernähen und es online zu repräsentieren. Ein Gesamtwerk, das sowohl die Elterngeneration als auch die Folgegeneration anerkennend begutachten würde, wenn es erstmal zur Zwangsjacke erstarrt war. Sie strampelte die Decke von sich und spürte doch, wie die Enge sie behutsam umschloss und ihren von der mitteilsamen Nacht müden Körper langsam in den Schlaf presste.
Die Herde verlässt die Koppel bei Dämmerung. Voraus fliegen kleinere Vögel, Bachstelzen und Finke. Enten, Gänse und Schwäne folgen ihnen. Hinterher stürmen Rentiere, Schafe, Pferde. Füchse traben mit etwas Abstand zu den behuften Tieren mit. Egal welcher Gattung wir gerade angehören, wir wissen immer, in welche Richtung sich die Herde bewegt. Wir hören unser Gewicht, unseren Auftritt, mal federnd mit Zugluft im buschigen Fell, mal knallen wir in unsere Gelenke, dicht an dicht mit den dampfenden, wuchtigen Körpern neben uns. Wir empfinden die Herde auch von weiter weg, als voranpreschendes Gewühl, unaufhaltsam. Wir galoppieren in ihrer Mitte, im Rückgrat zwicken Lust und Furcht. Lust, immer weiter zu rennen. Furcht, niedergetrampelt zu werden. Wir spüren den raschen Wechsel der Bodenbeschaffenheit unter unseren Hufen. Waldboden, Feld, Kies, Beton, gepflasterte Uferpromenade, abfallender Steinstrand. Die dumpfen Lichter im Nebel über den Wellen sagen uns nichts. Nicht wohin, nicht wozu. Sie stören uns nicht. Wir flattern von einer Boje auf und landen auf der dunklen Wasseroberfläche. Die Nachtluft unter unserem Gefieder hilft uns über die Wellen hinweg. Wir schwimmen gemeinsam hinaus. Die Erde zieht uns zu sich, das Meer ist tief. Wir versinken. Das spärliche Licht erlischt über uns, die Kälte umschliesst unsere Glieder, unsere Lungen halten still und raunen einander ohne Luft zu: «Niemals, niemals brauch ich einen Schuh.» Und als unsere Wirbelsäule sanft auf dem Meeresboden aufsetzt, fühlen wir das Gerüst der Erde.
Bei Tagesanbruch entsteigt die Herde dem Wasser in der Nähe der Koppel, von der aus sie in der Abenddämmerung losgerannt war. Ein ausgeschlafener Mensch hält das Gatter auf, treibt sie hinein.
Als sie die Umzäunung betrat, weinte sie.
Meine Lieblingsmusik ATM
Ich mag auch
Bücher
Und vor allem mag ich
Sarah Elena Müller liest «Culturestress» am 18.8. am Literaturfestival Lauschig in Winterthur und am 4.9. an den Buchtagen Weinfelden im Theaterhaus Thurgau, Weinfelden.
Mit Cruise Ship Misery spielt sie am 19.8. am Literatur Sommerfest Zehendermätteli in Bern, am 6.9. am Generationenfestival in Thun und am 23.9. im Royal Baden.
Die GT Virtual Reality Performance «Meine Sprache und ich» ist am 3. bis 4.9. Playbern Festival, Progr Bern zu Gast.
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