Wie stellt ihr euch ein schönes Festival in der Zukunft vor?
Lula Pergoletti: Für mich müsste es klein und fein, mit maximal drei Bühnen sein. Die Diversität auf den Bühnen sollte unsere Gesellschaft widerspiegeln. Die internationalen Acts sollten als Teil einer Tour beim Festival auftreten, so dass sie nicht nur wegen dem Konzert herfliegen. Das Booking sollte von einer weiblichen, inter-, non-binären, trans- oder agender Person gemacht worden sein. Es sollte sichere Chill- und Rückzugsorte geben und ein Awareness-Konzept, das Mitarbeitende, Publikum und Künstler:innen schützt. Der Vibe des Festivals soll sicher und auf Augenhöhe sein.
Jessica Sutter: Bei den Chill-Orten sollen einige lokale und nationale Kollektive vertreten sein, die sich für verschiedene politische, künstlerische oder kulturelle Zwecke einsetzen und sich gegenseitig vernetzen können. Das Festival müsste barrierefrei sein, alles soll auf einer Ebene stattfinden. Aus unserer Perspektive müsste das Essen natürlich vegan und regional sein mit einer breiten Palette, damit niemand auf etwas verzichten muss.
Kathy Bajaria: Was ich mir wünsche, sind gut beleuchtete Toiletten und Künstler:innen-Gagen, die nicht nur das Konzert, sondern auch Proben und kreative Arbeit decken.
Daniela Weinmann: Die höchste und die tiefste Gage sollen nicht so weit auseinanderliegen, wie es jetzt der Fall ist. Jetzt können Headliner:innen vielleicht mit einer Million nach Hause gehen, während die kleinste Band hundert Franken bekommt.
Lukas Schlatter: Ich stelle mir ein nachhaltiges, zukunftsfähiges Festival vor, bei dem die Besucher:innen für sich selbst und ihr Umfeld Sorge tragen, respektvoll miteinander umgehen sowie achtsam mit Ressourcen und der Umwelt umgehen. Die Infrastruktur sollte so wenig dauerhafte Schäden wie möglich an der Natur hinterlassen, und im Idealfall sogar permanente Infrastruktur miteinbeziehen. Die Energieversorgung sollte direkt an das Schweizer Stromnetz angeschlossen werden, da unser Strommix durch den hohen Anteil an Wasserkraftstrom nachhaltiger ist als mit Dieselgeneratoren. Falls kein Anschluss möglich ist, sollten alternative Technologien angewendet werden wie Solarkollektoren oder Wasserstoff-Generatoren. Der Standort wäre im Idealfall per ÖV erreichbar und möglichst weit von sensiblen Ökosystemen entfernt.
Lula und Kathy, wie wichtig sind Klimafragen und ökologische Anliegen für Helvetiarockt? Wo seht ihr Gemeinsamkeiten?
LP: Ich sehe sie als sehr wichtig an und sehe viele Gemeinsamkeiten. Wie in vielen Bereichen sind Frauen, gerade auch im Süden, besonders vom Klimawandel betroffen. Bei den Katastrophen, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind, sterben überdurchschnittlich viele Frauen. Meistens sind es Frauen, die Gemüse anpflanzen oder Wasser holen. Wenn das nicht mehr möglich ist, sind sie noch stärker abhängig von der Person, die das Einkommen nach Hause bringt, was noch immer oft der Mann ist. Da sehe ich grosse Zusammenhänge. Ich habe das Gefühl, dass sowohl feministische Themen wie Klimafragen vorausschauend denken. Feminist:innen und Klimaaktivist:innen denken nicht so fest im Hier und Jetzt, sondern in der Zukunft. Wir gehen beide sorgfältig und sensibel miteinander und der Umwelt um.
KB: Ich sehe es wie Lula. Das Patriarchat hat alle diese Themen sehr stark geprägt, da sehe ich eine Gemeinsamkeit. Ich glaube, die Sorgfalt, die Lula angesprochen hat, ist da wichtig. Wir wollen alle wegkommen von diesem Effizienzgedanken, vom Leistungsdruck. Diesen etwas anderen Blickwinkel darauf zu haben, ist etwas, das uns vereint.
An Music Declares Emergency, Tasty Future und Vert le Futur: Welche Rolle spielen Fragen der Diversität, von Race und Gender, von gesellschaftlicher Gerechtigkeit in euren Überlegungen? Wo seht ihr Gemeinsamkeiten?
JS: Bei Tasty Future geht es ja besonders um das Thema Tiergerechtigkeit. Unser Mitgründer Daniel Hellmann performt als Soya the Cow. Soya the Cow ist eine Drag-Kuh, die für Tiergerechtigkeit, Sexpositivität und Feminismus steht. Sie spricht sich dafür aus, dass die Binaritäten zwischen Geschlechtern und Spezien aufgelöst werden. Sie performt, singt und tanzt – und spricht damit für die Befreiung aller. Ich finde die Figur sehr spannend, da es uns genau um das geht. Wir wollen einen transformativen, strukturellen Wandel. Diese Idee haben queer-feministische Kämpfe auch. Der Klimawandel ist durch Ausbeutung entstanden. Wie kann man gegen Unterdrückung vorgehen und kooperativ, achtsam handeln?
DW: Im Moment werden viele Kräfte in unserer Gesellschaft mobilisiert, um grüne Massnahmen zu ergreifen. Es gibt den Green New Deal oder die Solaroffensive des Bundesamtes für Energie. Was ich beobachte ist, dass hier vor allem männliche Personen entscheiden. Es werden im Namen einer grünen Transformation massive Infrastrukturen gebaut und das sind weisse Cis-Männer, die das haupsächlich entscheiden und installieren. Dabei sind ja alle anderen Menschen ausserhalb dieser Gruppe massiv betroffen von diesen Entscheidungen. Ich finde, dass wir diese [FINTA*] Stimmen unbedingt von Anfang an in die Lösungen, die wir hier suchen, integrieren und repräsentieren müssen. Sonst ist die Zukunft genauso verzerrt wie jetzt. Dann werden zum Beispiel Mütter oder Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen nicht in diesen Lösungen berücksichtigt. Die gleichen Probleme wären also in der Zukunft noch da. Darum ist es sehr wichtig, dass wir in diesen Lösungsdiskursen Stimmen von nicht weissen cis-Männern mehr pushen. Ich glaube, das Problem wird unterschätzt.
Was sind die grössten Nöte der heutigen Musikindustrie? Was läuft aus euren jeweiligen Perspektiven schief?
DK: Im Verhältnis dazu, wie viel Musikschaffende arbeiten, kommt unglaublich wenig Geld wieder rein. Wenn man die Streaming-Einnahmen ansieht, ist es einfach lächerlich, was Spotify für einen Song, der gehört wird, zahlt. Das ist ein Pfeiler, der zeigt, dass es so nicht aufgeht. Das hat auch damit zu tun, dass es im Moment keine starke gewerkschaftliche Bewegung gibt, die den Streamingdiensten die Stirn bieten kann. Diese Bewegung müsste genauso global sein wie die Streaming-Dienste, die die Preise festlegen. Das ist ein wichtiger Punkt für mich. Der Aufwand und Ertrag im Musikstreaming steht rein ökonomisch für ganz viele Leute in absolut keinem Verhältnis zueinander.
LP: Die immer präsente Verfügbarkeit von Musik ist eine Not für mich. Man kann auf Spotify den ganzen Tag Musik hören, die man noch nie gehört hat, weil das die Algorithmen möglich machen. Dadurch geht die Wertschätzung verloren. Ich höre es von Menschen, die in Clubs arbeiten – die Publikumszahlen sind noch nicht auf dem Vor-Corona-Level und schon da waren sie je nach Club nicht wirklich gut. Was für die Clubs nicht gut ist, schadet auch den Musikschaffenden. Ich glaube, das hat mit der massiven Verfügbarkeit zu tun. Man ist sich nicht mehr gewohnt, sich Musik auszusuchen und dafür zu bezahlen. Es ist immer alles da. Warum soll man da fünfzig Franken für ein Konzert ausgeben?
DW: Für das Musikbusiness passt der Begriff «Economy of Hope» sehr gut. Viele Musiker:innen arbeiten so, dass sie über Jahre nichts verdienen und hoffen, dass es sich irgendwann lohnt. Da wird ein Geschäft mit Hoffnungen gemacht, in dem gefährliche Machtverhältnisse bestehen, gerade auch in Hinblick auf Gender. Ganz viele Artists kommen nur so weit, wie sie reich sind. Dadurch gibt es eine Einschränkung von Stimmen, die gehört werden. Dagegen haben Artists aus der Arbeiterklasse keine Chance, weil sie zum Beispiel nicht sechs Jahre ohne Lohn arbeiten können. Das können nur die Rich Kids.
LS: Wenn ich auf die Kernkompetenz von Vert le Futur zu sprechen komme, die ökologische Nachhaltigkeit, läuft auf unterschiedlichen Ebenen noch vieles schief. Die An- und Abreise von Publikum und Künstler:innen macht immer noch den grössten Anteil der Umweltauswirkungen aus. Hier gibt es bereits Beispiele, die mit gutem Vorbild vorangehen und die An- und Abfahrt mit dem ÖV im Ticketpreis inkludieren. Im Bereich des Bookings gibt es einzelne Festivals, die auf eine No-Flight-Policy setzen. Die Mehrheit der grossen Player ist diesbezüglich jedoch noch auf Feld eins. Auch im Bereich Gastronomie wird immer noch viel zu sehr auf Fleischangebote gesetzt. Obwohl vegetarische und vegane Angebote in den letzten Jahren vermehrt eingeführt wurden, ist das Thema Regionalität, Saisonalität, nachhaltiger Anbau, kurze Transportwege kaum von grosser Bedeutung. Wiederverwendung, Recycling, Abfallvermeidung, Mehrweg, Kreislaufwirtschaft sind Themen, die vereinzelt umgesetzt werden, aber bei grossen, kommerziell orientierten Veranstaltungen nicht im Vordergrund stehen. Grundsätzlich ist das Übermass an Konsum für einen grossen Teil der Umweltauswirkungen verantwortlich. Die Musikindustrie wird kaum auf den hohen Energieverbrauch von Infrastruktur und Veranstaltungstechnik verzichten können. Dennoch ist es auch hier notwendig, auf alternative und nachhaltige Technologien zu setzen. Zusammenfassend würde ich sagen, dass der hohe Konsum und Ressourcenverbrauch einen Paradigmenwechsel hin zu «weniger ist mehr» erfordert, was aber nicht bedeuten muss, dass die Qualität sinkt oder das Musikerlebnis leidet.
Wie tragt ihr euch selbst Sorge? Was braucht ihr alle, damit ihr eure Arbeit weiterhin machen könnt? Was würde euch besonders motivieren?
LP: Es braucht die Mithilfe von allen, dass es bei Helvetiarockt weitergeht. Ich habe manchmal das Gefühl, manche finden es praktisch, dass es Organisationen wie unsere gibt, damit man Verantwortung einfach abschieben kann. So funktioniert es aber nicht. Wir brauchen Fördergelder, rege Berichterstattung, Aufmerksamkeit in den Medien und Anerkennung für unsere Arbeit.
DW: Was uns am meisten bei Music Declares Emergency fehlt, ist Geld. Die Finanzierung ist überhaupt nicht klar. Was auch fehlt, wir aber hoffen, dass es sich ändert, ist der Kontakt mit den Künstler:innen. Dass Artists proaktiv auf uns zukommen und sagen: «Hey, das interessiert mich. Ich bin nicht perfekt und werde es auch nicht. Aber ich bin neugierig, finde das wichtig und melde mich bei euch. Was für Projekte könnten wir zusammen machen?» Das würde ich mir von Herzen wünschen, dass das mehr passiert.
LS: Zu wissen, was nötig wäre, um den Klimawandel und das Artensterben zu verhindern oder zumindest zu reduzieren, aber zu sehen, in welche Richtung sich Politik und Gesellschaft entwickeln, ist sehr ermüdend und deprimierend. Dasselbe gilt auch für Themen der sozialen Gerechtigkeit. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass kleine Erfolgserlebnisse einen grossen Unterschied machen, und dass der Austausch mit Menschen, die für das Gleiche einstehen und kämpfen, motiviert, weiterzumachen.
DK: Was mir hilft, ist, mich in Utopien, die es schon gibt, hineinzuwerfen. Die Lebenswelten, die ich schön finde, zum Beispiel. In Baden hat das One Of A Million Festival stattgefunden. Da hatte ich eine wahnsinnig gute Zeit, weil ganz viele Dinge, die wir in diesem Gespräch erwähnt haben, dort eingelöst, oder zumindest versucht werden. Dort arbeitet man daran und es ist spürbar. Mit allen «Abers», aber es ist für mich spürbar. Mich in einen physischen Kontext zu begeben, in dem die Veränderung schon passiert, tut mir gut. Die Kraft, die ich daraus ziehe, eine Gemeinschaft zu spüren, überwältigt mich immer wieder aufs Neue.
Helvetiarockt
Helvetiarockt ist ein schweizweit aktiver Verein, der sich seit 2009 für mehr Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Menschen im Schweizer Musikbusiness einsetzt. Mit diversen Angeboten schafft Helvetiarockt einen niederschwelligen Zugang zur Musik, fördert und vernetzt professionelle Musiker:innen und sensibilisiert die Branche. So wird mit dem FINTA-Nexus neben den etablierten Angeboten wie dem Helvetiarockt Music Lab, der Vernetzungsplattform musicdirectory.ch und Helvetiarockt On Tour ein Safer Space für professionellen Musikschaffende zum Austausch geboten. Die Schulungen und Austauschformate zum Thema sexualisierte Gewalt in Clubs und Festivals bieten seit diesem Jahr fundiertes Wissen und zielgruppengerechte Vermittlung von Expert:innen zu diesem Thema. Und es steht vieles Weitere an – denn ein Blick in die Musiklandschaft zeigt auch im Jahr 2024: Unser Kampf ist noch lange nicht vorbei.
Music Declares Emergency
Music Declares Emergency Schweiz ist ein Zusammenschluss aus Künstler:innen und weiteren Akteur:innen aus der Schweizer Musikbranche. Als Teil einer internationalen Bewegung will MDE über den Klima-Notstand aufklären und die eigene Branche dazu motivieren, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken und Schritte in eine lebenswerte Zukunft zu unternehmen. 2023 hat MDE Schweiz den ersten Report zu den CO2-Emissionen der Schweizer Festivallandschaft veröffentlicht. Music Declares Emergency startete 2019 in London und ist heute von Chile bis Indonesien in 14 Ländern aktiv. Die einzelnen Sektionen arbeiten unabhängig, ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind an die Musikindustrie vor Ort angepasst. Global teilen wir Ressourcen und Werte. Deren Kernstück ist die Declaration Of Emergency, welche auf der Website musicdeclares.net unterzeichnet werden kann.
www.musicdeclaresemergency.net
Tasty Future
Tasty Future unterstützt Museen, Theater, Kinos, Festivals und andere Kulturorte dabei, ihre Gastrobetriebe und das Verpflegungskonzept neu auszurichten – möglichst umweltfreundlich, pflanzenbasiert und mit Foodwaste-Konzept. Damit wollen wir zu einer klimagerechten und zukunftsfrohen Esskultur beitragen. Gemeinsam entwickeln wir konkrete Massnahmen. Wir sind davon überzeugt, dass es wichtig ist, da anzusetzen, wo die Handlungsspielräume und Hebel am grössten sind – nicht nur im Privatkonsum, sondern vor allem im öffentlichen Kontext. Mit Veränderungen im Gastrobereich von Kulturanlässen sparen wir nicht nur CO2-Emissionen, sondern leben vor, dass nachhaltiges Wirken lustvoll ist. Die wachsende Tasty Future Community ermöglicht allen beteiligten Akteur:innen Vernetzung, Erfahrungsaustausch und gemeinsames Lernen. Wir freuen uns über neue Mitglieder:innen und mutige Entscheidungen, die uns erlauben, vom Wissen ins Handeln zu kommen.
Vert le Futur
Vert le Futur ist ein schweizweit agierender Verband, der sich für eine nachhaltige Kultur- und Veranstaltungsbranche einsetzt. Wir teilen die Vision, dass das Schaffen und Erleben von Kultur im Einklang mit der Natur und der Umwelt stehen sollte. Dies erreichen wir, indem wir Menschen unterschiedlicher Backgrounds und Kultur-Genres zusammenbringen. Wir tauschen Wissen aus, machen Best Practice-Ansätze sichtbar und entwickeln gemeinsam Neues. Mit der Aktionsplattform «Tatenbank», schafft Vert le Futur Zugang zu kondensiertem Wissen, wissenschaftlichen Studien, konkreten Hilfsmitteln und Tools, sowie inspirierenden Beispielen, die Kulturschaffende und Organisator:innen in ihrem Arbeits- und Wirkungsbereich für eine nachhaltige Kultur unterstützen. Darüber hinaus organisiert Vert le Futur Netzwerkveranstaltungen, Workshops und Podiumsdiskussionen rund um das Thema Nachhaltigkeit in der Schweizer Kulturbranche.
bringing futures together
Dieser Artikel ist Teil des Hefts «bringing futures together», das von Daniela Weinmann und Donat Kaufmann konzipiert und von Shannon Hughes redaktionell betreut wurde. «bringing futures together» wurde von splatz.space gelayoutet und ist am m4music gratis erhältlich.
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