Letzter Halt Bern: Am Aether-Festival der Dampfzentrale sitzt der Mann, der sich Dawuna nennt, am 1. Julitag im Foyer hinter dem DJ-Tisch. Er nimmt am Rand Platz, bei seinem Tape-Mehrspurgerät, der Trockeneisnebel im Raum ist dicht, das Publikum sitzt oder liegt allenfalls fast zu bequem auf Kissen auf dem harten Boden. Denn die Musik, sie ist nicht bequem: hier ein begeisterndes Disco-Aufflackern aus dem Nebel, da ein glasklarer Noise, dort seine Soulstimme, die er live manipuliert und verdreht. Zuweilen der Gedanke: dieser Breakup-Song könnte ein Hit sein, weil seine Stimme auch sehr präsent und golden glänzt, aber Dawuna bleibt sitzen, reckt höchstens die Faust in die Luft, verdreht seinen Körper, legt Tape um Tape ein, um neue Spuren zu legen.
Geborgte Beats klingen an, er setzt zu einer weltlichen Nah-Gospelpredigterfahrung an, bricht sie auch gleich wieder ab, weil da gibts Platz: für einen neuen Noise, ein nächstes Rauschen, eine nächste Suchbewegung, einen letzten Dank. Euphorie?
Stolpern in der Mailbox im Januar 2023: Kein Image, nur ein Cover mit einem undeutlich erkennbaren Mann, der an einer Zigarette zieht. Worte des Online-Dealers, die Grosses versprechen. Also los auf den Kauf-Knopf, ohne vorheriges Hören, weil unbekannte Mysterien und Geister nach Hause bestellen den Trott des Alltags mit notwendigen Unwägbarkeiten stören kann.
Ein paar Wochen später trifft die Platte ein. Immer noch habe ich keine Ahnung, was das ist, ausser der Name des Urhebers – Dawuna – und der Albumtitel «Glass Lit Dream». Also lege ich die Platte auf, und was dann den Raum erfüllt, sind so viele Sound-Verhuschungen und -Erschütterungen, immer wieder Leerstellen, Chöre, ein Rauschen, und eine Stimme, die an einen zerknitterten Soul-R&B-Schlafzimmer-Prinzen denken lässt. Woher diese alles einnehmende, immer aber auch sehr geisterhafte Computer-Gospel wohl kommen mag?
Das Internet – diese grosse Entmystifizierungswelt – weiss natürlich bereits vieles: Ian Mugerwa heisst der Urheber dieser Musik. Von einem hektischen mentalen «space» spricht Mugerwa gegenüber dem «Guardian», wenn er sich an den Tag im November 2020 zurückerinnert, als er seine Songs und Tracks ohne Plan, eher aus einem Impuls heraus, online veröffentlicht hat. Weil er nach Covid wirklich nicht wusste, ob die Musikindustrie auf ihn gewartet hat. Und ob seine Musik überhaupt Leute erreichen würde.
Das Internet – diese in den allerbesten Fällen und trotz all den Algorithmen und Manipulationen auch immer noch grosse Zufallswelt – machte es möglich, dass «Glass Lit Dream» Menschen erreicht hat. Es waren nicht nur namenlose Reddit-User:innen, sondern auch der Jazzmusiker Moses Boyd oder die Ambient-Strassenreporter Space Afrika, die Dawuna bei Gelegenheit erwähnten. «Glass Lit Dream» erhielt eine «richtige» Veröffentlichung dank dem Label O___o?, die LP musste nachgepresst werden, und es wäre nicht verwunderlich, wenn das Album in – sagen wir mal – dreissig Jahren als verlorener Klassiker unserer Gegenwart wieder ausgegraben werden würde.
«Glass Lit Dream» funktioniert als private Erzählung, in der die grossen Themen, das grosse Leben ebenso enthalten ist: Ian Mugerwa verarbeitet in den Tracks des Albums nicht nur eine Beziehung, die bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung hinterlassen hat. Es erzählt von seiner aussermusikalischen Biografie: Nach der Geburt in Maryland lebte er in Kenia, bis seine Mutter nach dem Bombenanschlag auf die US-Botschaft in Nairobi mit ihm zurückkehrte. Zurück in den USA war er – so erzählt er es im «Guardian» – in einer sehr weissen Nachbarschaft verschiedensten Rassismen ausgesetzt.
«Glass Lit Dream», aufgenommen jeweils nach Nachtschichten in einem Brotjob, an Tagen, in denen er das Tageslicht kaum je erblickte, erzählt auch von seinem Aufwachsen mit Gospel, mit den Alben von D’Angelo, mit Disco, Techno. Es ist so auch sein Beitrag zur Schwarzen Musikgeschichte, und die Weiterschreibung der verschiedensten Traditionssträngen.
Dieses Album jedenfalls: es dreht bei mir unaufhörlich.
Frühling 2023: Ich bin am Rewire Festival in Den Haag, erst sehr spät entdecke ich, dass Dawuna auch hier spielt. Über den Urheber habe ich bis zu diesem Tag immer noch kaum recherchiert (manchmal will ich auch einfach nichts wissen.)
An einem Festivalmorgen nehme ich den Hotellift, mein Bruder ist zufällig bereits in diesem, spricht mit einem kleinen, sehr freundlich scheinenden Mann, der sagt: «Ich bin Ian, bin als Dawuna hier. Du?»
Und ich stammle: «Oh shit, so verrückt.»
Später am Festival, in einem dieser vielen luxuriösen Konzertsälen der holländischen Hauptstadt, die erste Live-Konfrontation: Ähnlich wie drei Monate später in Bern, aber viel ausgeleuchteter, viel zentraler. Dawuna – oder eben Ian – steht hinter einem DJ-Tisch mit einem Tape-Mehrspurgerät, Laptop und Mikrofon. Das Geisterhafte des Albums: man hört es vor allem dank den Tapes, die er einlegt, dank diesem «Tape Hiss», dem Rauschen der Kassetten –, aber es ist gegenüber dem Album auch eine neue Präsenz da, dank der Stimme, die das undeutliche verliert, und fast schon mit einer Goldkante versehen ist. Ich denke bereits da: wäre diese Musik nicht voller Brüchigkeiten produziert, dann wäre Dawuna hier nicht auf dieser doch eher kleinen Bühne. Ehe ein Noise aus dem Nichts ein- und vieles erschlägt.
Was bleibt nach den Konzerten: Hat diese Musik nun nicht etwas verloren, jetzt, da ich weiss, wie der Erfinder wirkt?
Es sind diese sehr wohlfeilen Bedenken, die auch nach dem Auftritt in Bern wieder präsent sind. Weil ich mir aus alten Sugar Man-Reflexen eine geniale Erzählung zusammenerfunden habe. Aber natürlich: mit Dawuna kann kein Geniekult – woher dieses Bedürfnis auch immer herrührt – betrieben werden. Und «Glass Lit Dream» ist auch nicht ein grosses «Lost Album», weil Dawuna wahrgenommen wird, wie die aktuelle Europa-Tour und auch sein Auftritt in Bern gezeigt hat.
Vielleicht hätte ich ihn dazu fragen können/fragen müssen, fragen sollen im Vorfeld des Konzerts/nach seinem Konzert. Vielleicht wäre ich ihm näher gekommen, doch wahrscheinlich passt es auch so.
Es ist ziemlich sicher so: Näher als in meinem Zimmer bin ich dieser musikalischen Erscheinung nie gekommen. Nicht an den Konzerten. Nicht im Hotellift. Dawunas Musik? Die bleibt sowieso.
Aether & Full of Lava
Nach dem Aether (das am 1. Juli stattgefunden hat – mit Acts wie Junge Eko und Hüma Utku) ist datumsmässig weit vor dem Festival Full of Lava – dem einstigen Festival Saint Ghetto. Dieses findet vom 16. bis am 19. November in der Dampfzentrale statt. Dieses Mal dabei: Tirzah! Rainy Miller! Backxwash! Slauson Malone 1! Ein DJ-Set von Coby Sey (und ein Talk mit Coby und Benedikt).
So gut!
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