Karen, du beziehst für sechs Monate ein Wohnatelier im Cité international des arts in Paris. Wie kann ich mir einen solchen Aufenthalt vorstellen? Wie sieht dein Atelieralltag aus?
Vielleicht geht es gerade darum, sich damit auseinanderzusetzen, was ein Atelieralltag oder Alltag an sich ist. Wobei ich glaube, das lässt sich gar nicht trennen. Alltag beinhaltet für mich das, was wir mit der Zeit und mit wiederholten Gesten erschaffen. In Momenten, in denen ich mich plötzlich nicht mehr darauf verlassen kann, dass meine Hände bereits wissen, wo die Gabel im Schrank sich befindet, fühle ich mich ungelenk. Doch das teils unbequeme und teils spannende Herausfinden, wie die Dinge laufen, lässt irgendwann wieder nach. Ich weiss jetzt, dass ich Notizen mit der Knoblauchpresse und einer Stecknadel an die Wand hängen kann, die Waschmaschine am Ende zehn Mal piepst und dass es Tage gibt, an denen plötzlich Ameisen aus den Wänden hervorkrabbeln.
Ich hatte mir vorgenommen viel zu lesen und mir möglichst viele Orte der Stadt anzuschauen, aber manchmal bin ich nach drei Seiten bereits glücklich und will dieses Gefühl nicht mit noch mehr Informationen verwischen. Oder es gibt Momente, in denen ich mich einfach nicht entscheiden kann, wohin ich gehen soll. Sechs Monate sind jedoch ein tolles Format, um viel zu entdecken und im Atelier arbeiten zu können, auch wenn man mal ein Tag etwas abdriftet. Jetzt, wo das Ende naht, kommt jedoch auch das Bedürfnis, die angedachten Arbeiten zu konkretisieren.
Ich habe dich gebeten, mir Fotografien von situativen Entdeckungen auf deinen Streifzügen durch die Grossstadt zu schicken. Die eine zeigt eine Sitzbank mit der Inschrift: «Nous ne regardons jamais assez, jamais assez juste, jamais assez passionnément.» Hat sich dein Blick auf Paris im Verlauf deines Aufenthaltes verändert? Über welche Entdeckungen hast du dich am meisten gefreut? Und wie riecht Paris?
Ich denke, Blicke und Städte verändern sich ständig. Das Zitat auf der Bank stammt von Collette, einer Schriftstellerin (1873–1954). Es scheint davon zu sprechen, dass Blicke nie ausreichen, respektive ihnen auch ein sehnsüchtiger Charakter inne ist. Der Blick begehrt das Gesehene, erreicht es aber nie, weil eine Distanz zwischen dem Auge und dem Gesehenen Bedingung ist. Sobald das Auge das Gesehene erreicht, muss es sich schliessen, aus Reflex und berührt – seiner Funktion entraubt – nun mehr. Ich lese das Zitat als Aufforderung, mich einer langsamen, detaillierten Betrachtung und damit dieser Sehnsucht hinzugeben.
Vielleicht ebenfalls fast reflexartig lese ich Schrift im öffentlichen Raum, auf Tafeln, Tüten, Steinen. Darum funktioniert wohl Werbung so gut, weil wir lesen müssen. Manchmal schaue ich später im Internet nach, woher der gelesene Text stammt. Ich empfinde es als eine schöne Weise, die Stadtlandschaft mit der digitalen Landschaft zu verbinden, die – wenn das Internet funktioniert – immer zur Verfügung steht und sich darüberlegt. Die Texte sind eine Art Verbindungsstücke, weil Sprache in beiden Landschaften existieren kann, ohne dass es eine grosse Übersetzungsarbeit benötigt.
Paris riecht nach Crèpes, Zigaretten und Urin. Im Frühling kommen noch die Blumen, Sträucher und Büsche dazu.
Ein weiteres Foto zeigt eine Skulptur, halb Mensch, halb Fledermaus… – eine teuflische Darstellung. Was stellt sie dar? Was fasziniert dich an ihr und welche Fragen stellen sich dir?
Es handelt sich um den Satan von Jean-Jacques Fuchère, der sich im Musée de la Vie Romantique befindet. Sein Kopf in die Hand gestützt, strahlt er eine verführerische Nachdenklichkeit aus. Sein Blick ist sehr eindringlich, irgendwie flirtend. Mich interessiert die Skulptur, weil sie wie bei der Aussage von Collette wieder mit der Zusammenführung von Begehren und Begehrtwerden spielt. Es geht dabei um ein Potential, welches nicht um dessen Einlösung, sondern um deren Möglichkeit Willen eine Wirkung hat. Mit der Installation, welche ich letztes Jahr in der von dir kuratierten Hrdayam Vitrine gezeigt habe, begann ich mich mit einer solchen Einlagerung, in dem Falle von Gewalt in den Staat, zu beschäftigen. Es war ein Versuch, eine Analogie zwischen der Vitrine, die uns von einem Gegenstand trennt und diesen gleichzeitig für wichtig und begehrenswert erklärt, und einem System zu ziehen, das seine Macht mit einem Gewaltmonopol rechtfertigt, welches uns insgesamt vor Gewalt schützen soll. Wer nun von diesem Monopol geschützt wird und wer nicht, hängt sehr stark von der Konzipierung eines solchen Systems ab.
Intensive Recherchevorgänge sind Teil deiner künstlerischen Arbeit. Was für Themen verfolgen dich aktuell? Was liest du gerade?
Viele meiner Arbeiten beziehen sich vermehrt auf Recherchen, andere wiederum entstehen aufgrund von Beobachtungen oder Erlebnissen ziemlich spontan. Letztere empfinde ich wie kleine Geschenke, die ich noch in Form bringen muss. Im Rahmen meiner künstlerischen Praxis interessiere ich mich für Geschichtlichkeit und wie diese gedacht und konstruiert wird, insbesondere welche Rolle der Kunst- und Kulturproduktion dabei zukommt.
Unter anderem habe ich das Buch «Nach der Natur» (2010) von Ursula Heise gelesen. Darin untersucht sie unterschiedliche Beispiele aus der Kunst und Literatur, welche den Diskurs um das Artensterben prägen. Sie zeigt, wie die Kulturproduktion durchaus die allgemeine Wahrnehmung einer Problematik dadurch mitbestimmt, dass sie teils komplexe Phänomene in erzählerischen Strukturen wiedergibt.
Auch habe ich «Die Ausgewanderten» (1995) von W.G. Sebald nach Paris mitgenommen. Er ist einer meiner Lieblingsautor:innen. Seine Art zu erzählen, einzelne Schicksale ineinander zu verschachteln und mittels langer Abschweifungen die Protagonist:innen in historische Kontexte einzubinden, hat oft etwas sehr schönes und trauriges zugleich.
In Paris habe ich mir «En attendant Godot» von Beckett gekauft. Das Stück mussten wir im Gymnasium lesen, es hat mich aber erst später wirklich fasziniert. Zuerst wegen dem Charakter Lucky, der einen absurden Monolog führt und damit die Grenzen der Sprache austestet. Der Monolog fungiert quasi als Reaktion darauf, dass Lucky befohlen wird zu denken. Das hat vielleicht auch etwas sehr Aktuelles, wenn man sich angesichts der künstlichen Intelligenz die Frage vermehrt stellen muss, was Denkleistung und Wissensproduktion eigentlich ist. Heute interessierte mich das Buch, weil darin gerade jede Erinnerung, jegliche Art von Entwicklung zurückgewiesen wird; es verweigert sich der Zeit und der Geschichte. Mit Ausnahme von einem Baum, welcher im zweiten Akt beginnt, Knospen zu machen.
Zur erwähnten Vitrine-Installation gehörte auch das Video mit dem Titel «Potential». Darin, sowie in meiner Erwähnung bezüglich Gewohnheiten, wird ersichtlich, dass sich meine Recherchen oft um Verinnerlichungsprozesse drehen. Zum Beispiel, wie Kontrolle und Überwachung von Arbeitsprozessen allmählich zur Selbstoptimierung führen können. In vielen Bereichen wird verlangt, dass wir uns mit unserer Arbeit identifizieren, was erfüllend und schön sein kann, aber nicht unproblematisch ist.
Eine Freundin hat mir neulich die Serie «Severance» empfohlen. Die Handlung dreht sich um eine Dystopie, in der den Mitarbeiter:innen ein Chip eingebaut wird. Dadurch kann sich die Person im Privatleben an nichts mehr erinnern, was bei der Arbeit geschieht und umgekehrt. Ich denke, die Serie kann als zynische Antwort darauf gesehen werden, dass sich das Berufs und Privatleben nicht mehr trennen lassen (wenn dies denn je möglich war, vielleicht handelt es sich bei dieser Aussage auch eher um eine rhetorische Figur). Gleichzeitig wird damit auch die Selbstausbeutung auf die Spitze getrieben, indem der arbeitenden Persönlichkeit die Möglichkeit entzogen wird, ihre Situation zu verändern, da ihr die Produktionsverhältnisse unbekannt bleiben.
Verinnerlichte Verhaltensmuster, wie wir kommunizieren, wann wir reden und schweigen, wem wir Glauben schenken, was wir von uns und von anderen erwarten oder Vorurteile, werden bestimmt nicht nur individuell, sondern auch strukturell geprägt. Wir sind durch eine Art soziales Gewebe stets miteinander verbunden. Dieses mit kleinen Veränderungen umzuformen und anzufangen, es zugunsten einem empathischen Zusammenleben zu nutzen wäre meine Hoffnung, wenn ich gerade sehr optimistisch drauf bin.
Auf dem dritten Bild sind im Schaufenster tanzende Mäuse zu sehen: Was möchtest du in der restlichen Zeit in Paris unbedingt noch erleben? Und was würdest du tun, wenn Scheitern dabei keine Option wäre?
Neulich war ich im Louvre, das war noch auf der Liste der Museen, die ich besuchen wollte. Am besten tut man dies in einem geduldigen Gemütszustand. Nach fünf Stunden musste ich aus Erschöpfung aufgeben. Es war toll, so viele Werke im Original zu sehen, die ich sonst nur von Abbildungen her kenne. Ich weiss nicht, ob mir das so beigebracht wurde und ich deshalb das tatsächliche Werk so berührend finde oder ob es doch einen Unterschied an sich gibt, in der Materialität, der physischen Wirkung oder so.
Wie die Mäuse zu tanzen, wär auch schön – aber das wird vielleicht eher spontan noch passieren. Bestimmt plane ich noch viele Apéro-Momente an der Seine und ich möchte die letzten Vorlesungen einer Reihe von George Didi-Huberman besuchen.
Also inwiefern Scheitern keine Option? Wenn ich für nichts zur Rechenschaft gezogen würde? Dann würde ich den Teufel holen – als Souvenir.
Was ich mag
Karen Amanda Moser (*1988 in Thun, lebt und arbeitet in Bern) studierte von 2011 bis 2014 im Bachelor an der Hochschule für Künste in Bern und schloss 2016 mit dem Master an der Saint Lucas School of Art in Antwerpen ab. www.karenmoser.ch
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