Vielleicht gibts noch einen offenen Slot heute. Ich weiss es nicht. Aber der Letzte am Abend ist sicher nicht mehr frei, das weiss ich. Ich kann also nicht früher gehen. And will you write in English?
Mein Abschlussstück war ein Stück unter einer Brücke in Brüssel. Ich verbrachte viel Zeit allein unter dieser Brücke. Mich berührte die Erfahrung, dass dort so verschiedene Schichten spürbar sind: man sieht das funktionale Leben der Brücke, spürt, wie die Velos und Trams über die Brücke fahren. Aber man sieht auch das fliessende Wasser des Flusses, das Licht und die schwimmenden Enten, die eine total andere Ebene des Lebens zeigen. Alles war dort entschleunigt, es fühlte sich an wie der Unterleib, wie das Unterbewusste der Stadt. Das war mein Ausgangspunkt.
Ich machte dazu eine Performance. Denn ich wollte «Graffiti-Monsters» erschaffen, also kreierte ich so Riesenmasken für die drei Performer:innen, die dann diese unter der Brücke lebenden Graffiti-Monsters spielen sollten. Und dann sollte dieser Slapstick-Chor aus Streetworker auftreten, die rufen und singen: «Hey ho! Hey ho! Ha!» Das war mein Abschlussstück, hahaha, das war sehr slapstickartig und clowny.
Nach dem Abschluss meines Theaterstudiums reiste ich für ein Gespräch mit einer Theaterproduktionsplattform mit dem Zug. Ich wusste nicht, wie ich mich auf das Gespräch vorbereiten sollte, denn es ging um eine mögliche Zusammenarbeit. Ein Wort ploppte in meinem Kopf auf: «to shelter», «schuilen» auf Holländisch. Und ich merkte: ursprünglich sollte es im Abschlussstück um Geborgenheit, um «sheltering» gehen, das war die Essenz meiner Erfahrung unter der Brücke. Doch mit all dem Slapstick im Stück überschritt ich eine Grenze, meine intime Erfahrung mit diesem Ort, an dem ich mich geborgen fühlte, war nicht mehr da. Und mit dieser Notiz an mich selbst ging ich in das Gespräch.
Es war ein sehr inspirierendes Gespräch um das, was «schuilen» alles bedeutet. Es ging um Freiraum in einer Stadt, einen Raum ohne Regeln, und die Frage, was nicht kontrollierter öffentlicher Raum ist. Die Frau der Theaterproduktionsplattform sagte: Warum machst du nicht eine Arbeit für ein Work-in-Progress-Festival, bei der du wirklich mit dieser Intimität arbeitest? Und so nahm das Projekt seinen Lauf.
Ich habe Menschen zu ihren Rückzugsorten befragt. Ich sammelte diese indviduellen Orte und Sachen, um herauszufinden, wie die Leute eigentlich sind. Mit dieser Vorstudie wollte ich dann in zwei Jahren einen riesengrossen «shelter for everyone» bauen und für diesen Zufluchtsort wie alles zusammenschweissen.
Aber da ich an einer anderen Performance arbeiten musste, hatte ich kaum Zeit für dieses Projekt. Das ist manchmal auch sehr gut. Weil dann gibts keinen Druck – und es entsteht Raum für Zufälle. Ich wusste, dass ich diese Miniatur-Maquettes machen wollte, denn ich liebe es, Dinge zu basteln. So sammelte ich Geschichten von Menschen in den Strassen, stellte Fragen wie: Wo gehst du hin, wenn du zu dir selber finden willst?
Mit all diesen Geschichten ging ich zurück in mein Atelier, ich nahm ein Ei und machte ein Loch in die Mitte, ich leerte es aus und kombinierte es mit einer Geschichte von einem Mann in einer Sauna. Das zeigte mir, wie unsere Vorstellung funktioniert, wie sie arbeitet. Für den Text genügen wenige Sätze, das Denken steckt dann noch in diesen und es öffnet den Raum für Fantasie – und wie du auf das Objekt blickst.
Ich lud auch Menschen ins Atelier ein, und ganz langsam entwickelte ich diese Art von Gesprächen und diese Fragen, die die Erfahrung vertiefen.
An einem Festival, mit einem nomadischen DIY-Arbeitstisch, das war so gut, sdass ich an ein weiteres Festival eingeladen wurde. So konnte ich kleine Erweiterungen machen, fragte mich immer wieder: Was braucht diese Arbeit? Beispielsweise waren die Maquettes zuerst auf einem Tisch, und ich dachte mir: eigentlich wäre es schöner, wenn jedes einzelne Modell einen eigenen Platz hätte. Es folgte – alles ganz langsam – das Haus, der Rahmen, in dem ich die Menschen empfange, und dann die Schreibmaschine, all diese kleinen Upgrades, all diese kleinen Professionalisierungen.
Als ich es zum zweiten Mal gemacht habe, machte ich eine Entdeckung. Und zwar habe ich bis dahin gedacht, dass das Modell und die Worte das Resultat der Arbeit seien. Doch dann realisierte ich, dass die Entdeckungen, die die Menschen im Gespräch selber machen, das eigentliche Werk sind. Das ist das Resultat, und die Maquettes sind das Nebenprodukt. Das verlagerte den Fokus, und zeigte, wo das Gewicht dieses Dings liegt.
So lernte ich das «Shelter Atelier» langsam kennen, und langsam wuchs es weiter an. Auch das ist lustig: ich hatte noch nie ein Werk, das sich über eine so lange Zeit weiter entwickelt und sich immer weiter ausweitet. Es ist so cool: du merkst, wie du dich selber veränderst, und entdeckst deine Arbeit immer wieder neu, stösst auf verschiedenste Schichten.
Das passierte so intuitiv, dass ich erst im vergangenen Sommer wusste: ah ja, deshalb musste ich dieses Projekt machen. Es ist, als komme das Unterbewusstsein langsam zu Bewusstsein. Und das ist auch sehr cool: dass du mit deiner Arbeit mitwachsen kannst.
Ich wollte bereits am Anfang, dass die Aktivität des Sammelns auch eine Sache an sich ist, so, dass es nie zu Ende sein wird. Ich hatte diesen Traum einer endlosen Arbeit schon immer, das gibt mir sehr viel Luft und Raum. Denn oft ist es mit Stücken so, dass diese zu einem grossen Teil aus Repetition bestehen, und das ist dann leicht langweiliger.
Das ist der Prozess, ist das eine Antwort?
Im «Shelter Atelier» gibts diesen Austausch, der auf Gegenseitigkeit beruht. Es ist nicht nur die Erfahrung, das Erlebnis, die der Besuchende macht, sondern auch ich will etwas, auch ich habe ein Interesse. So entsteht die Vielfältigkeit der Sammlung. Wenn die Menschen mehrere Antworten habe, steuere ich sie ein wenig hin zum einen Ort, der wichtig ist für die Sammlung. So arbeiten wir beide für diese Sammlung, das ist super nice, denn es ist zwar sehr persönlich, aber geht über das Persönliche hinaus. Ein grosser Teil meines Prozesses war es, hier das Gleichgewicht zwischen dem Steuern und dem Nicht-Steuern zu finden. Zu Beginn nahm ich fast keinen Einfluss, aber ich merkte, dass genau hier meine Arbeit liegt. Nun habe ich mehr Erfahrung und ich kann diese nutzen. Das macht es ehrlicher, der Person zu sagen: ich denke, es sollte auch das sein. So nehme ich mir auch meinen Raum. Das ist der Austausch.
Es passiert wirklich sehr selten, dass ich mit dem, was die Person erzählt, überhaupt nichts anfangen kann. Das zeigt mir, fast wie in einem verrückten Spiegel: ich finde zu fast allen Menschen eine Verbindung. Das zeigt mir, dass dies wirklich ein «shelter» für alle ist.
Als du, Benedikt, gestern deine Jacke als «Shelter»-Beispiel nanntest, merkte ich: ich habe ja auch diese Jacke.
Benedikt: Ich habe mir nach deiner Frage nach dem persönlichen «shelter» überlegt, ob ich einen Ort nennen soll, an dem ich mich wohl fühle. Aber ich suchte weiter, merkte dann, dass ich immer, wenn ich unsicher bin – oder ich mich auf den Strassen oder im Ausgang oder im Büro wohler fühlen will – diese gelb-weisse Levi’s-Jacke anziehe. Die ist eigentlich unmöglich und auch sehr austauschbar und auch recht auffällig, aber seit ich das Jäckli in einem sorglosen Moment gekauft habe, ist es wie eine Art Erweiterung von mir. Ich erzählte dir diese Geschichte, du hast mich dann gebeten, etwas aus dem Materialienfundus auszuwählen, ich wählte einen Velopedal-Reflektor. Diesen haben wir auf ein Metallplättli geklebt, und so steht nun dieser Reflektor für mein Jäckli und wirkt fast wie auf einem Catwalk. Wie aber der begleitende Satz lautet, habe ich vergessen, leider…
Salomé: Gestern kam auch eine Person, die das Singen als «shelter» bezeichnet hat oder jemand mit einem Raum fürs Trauern. Das macht es so persönlich, es ist keine Fabrik, wo «shelters» fabriziert werden, keine funktionalen Teile. Es ist magisch, das zu machen. Oder etwa diese Person, die auch Salomé heisst, und denselben «shelter» hatte wie ich vor drei Jahren. Solche Sachen passieren immer wieder.
Es ist wirklich eine Kollaboration, wir sind auf eine Art gleichwertig. Das wurde mir auch von der Künstler:innen-Gruppe hier am Aua zurückgemeldet, dass diese Gleichwertigkeit sehr speziell ist. Denn es ist keine Therapiesitzung, während der ich sage: ja, ja, und ich habe dann gleich meine Interpretation bereit. Wir entdecken gemeinsam, warum und was und wie es auf uns wirkt. Ich merkte auch, dass es weniger magisch ist, und nicht so viel passiert, wenn die Person nicht unbedingt offen ist, Dinge zu erforschen. Dann wird es zu funktional. Ich kann das schon so machen, aber es ist dann nicht eine richtige Zusammenarbeit.
Wie ich es steuern kann? Beispielsweise mit den Materialien, die ich hier habe. Diese bestimmen die Ästhetik. Kriterien für die Materialien sind: können sie berührend sein? Haben sie eine Geschichte? Am besten funktionieren gebrauchte Dinge, oder Objekte aus der Natur. Diese Materialität ist die Hauptquelle der Arbeit. Die Materialien sollen so vielfältig wie möglich sein.
Hier fanden wir beispielsweise diesen fantastischen Laden Off Cut, das war wie der Himmel, wie Walhalla für uns. Alles hatte es dort… Ich sammle auch viel an Flohmärkten. Material öffnet unsere Fantasie, kann ein Gefühl oder einen mentalen Zustand ausdrücken. Die Suche nach diesem Ausdruck ist definitiv ein Teil der Arbeit.
Im vergangenen Sommer war es überwältigend: Ich entdeckte, dass ich mir voll selber vertrauen kann, dass ich den richtigen Zugang zu einer Person finde, egal, welche Energie ich gerade habe. Die einzige harte Zeit ist nach dem Nachtessen, dann bin ich nicht voll auf der Höhe.
Ich verstehe nun ein bisschen besser, was es heisst, eine Ärztin zu sein. Du machst zwar immer das Gleiche, aber jedes Zusammenkommen ist einzigartig je nach Präsenz und Energie der Person. Vorher fragte ich mich immer: wie geht das wohl mit mir bei diesen Ärzt:innen? Aber wahrscheinlich gehts ja so wie mit allen anderen.
Natürlich hilft es auch, dass es um ein drittes Ding – das Objekt – geht, es hilft sehr für die Energie, dass es nicht um die Beziehung zwischen uns zwei Menschen geht.
Eine Frau sagte mir, es sei eine sehr emotionale Arbeit, die ich mache. Und das stimmt eigentlich, man kann sehr viel abladen. Wir machen es auch mit einer grossen Ernsthaftigkeit, einer «carefulness of everything»: die Materialien, die wir auswählen, den Tee, den wir ausschenken, wie wir die gebauten «shelter» nachher behandeln und wirklich schauen, dass sie nicht kaputt gehen. Das ist dann der schönste Job dieser Welt: wenn du eine Künstler:in sein kannst, die diese Sorgfalt und Ernsthaftigkeit anwendet.
Ein weiterer Grund, weshalb es zu einem Shelter für mich wurde, ist der Rahmen. Ich kann da drin sitzen, habe das Vertrauen, dass alles im richtigen Moment kommt, ich kenne das in meinem Alltagsleben sonst kaum… Dieses Gefühl, dass ich etwas Wichtiges mache.
Humor ist ein grosses Element in meiner Arbeit, wenn auch nicht unbedingt in dieser Arbeit.
Ich fand eine Slapstick-Expertin und habe begonnen bei ihr Workshops zu besuchen, da gings um physische Comedy, also ohne Nasen oder so. Man lernt, wie man stolpert oder wie man den Kopf richtig auf den Tisch schlägt – ich habe so tolle Videos aus diesen Workshops: man sieht, wie 50 Menschen in einem Raum ihre Köpfe auf die Tische schlagen. Diese Videos sind so absurd, das wäre eigentlich eine fantastische Performance.
Clown zu spielen ist hyperkontrolliert, superchoreografiert; wenn es das nicht ist, ist es nicht lustig. Ich musste lernen, alles zu kontrollieren.
Mit diesem Clowny-Slapstick-Ding arbeitete ich immer sehr unbewusst, jetzt will ich es lernen. Ich weiss nicht, wo es mich hinbringt, aber ich habe grosse Ambitionen.
In meiner Arbeit ist das Aufeinandertreffen mit dem Publikum in allen verschiedenen Formen sehr wichtig: auch beim Shelter Atelier ist die Begegnung das Hauptding. So hängt das wohl zusammen.
Als ich nach dem Studium machen konnte, was ich wollte, ohne mich im Vornherein zu rechtfertigen, war das eine grosse Befreiung. Denn bei allem was ich tue, lasse ich mir den experimentellen Rahmen bis zum Schluss. Premieren sind keine Premieren mehr, sondern Try-Outs mit Publikum. Als ich dies entdeckt habe, hat sich so viel verändert: dieses Resultatdenken war weg, der Druck war weg. Aber «research» klingt zu schwer, Kunst ist nicht immer «research» oder kritische Theorie. Es geht doch darum, den Dingen spielerisch und leichtfüssig auf den Grund zu gehen.
Noch immer herrscht die Grundannahme, dass du mit Antworten kommst, dass dein Stück die Antwort liefert. Aber das ist doch nicht interessant. Was ich machen will, sind Erkundungen. Hier ist eine Antwort, da eine andere, das bringt mir Freude, dort öffnet etwas den Raum, die Perspektiven, das Denken – es ist diese Sammlung an Antworten. Eine Frage auf eine verspielte Art zu erforschen, ist so viel interessanter, als eine Antwort auf die Weltprobleme hinzuknallen.
Eigentlich wollte ich immer alle «shelter»-Objekte gemeinsam ausstellen, aber nun habe ich hier in Bern gemerkt, dass eine Auswahl auch sehr schön sein kann, weil du kannst nicht allem die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Weniger ist mehr, vielleicht.
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