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Noemi Somalvico:
DRITTER BRIEF
Aus der Reihe «Wagnis Wirklichkeit»

Utopia

Peluz,

ich kann mit dieser Stadt nichts anfangen, (lass mich eine gründliche Übertreibung vornehmen), und alle meine bisherigen Fluchtversuche gingen schief.
Einmal bin ich nach Biel ausgewandert, ein anderes Mal nach Takmandutschu-

Heute ist der 10. Mai und ich seit drei Monaten wieder hier, Freiburgstrasse 43. Wohn irgendwo und halt die Klappe, sage ich mir.
Die ganze Nacht habe ich von dir geträumt. Vielleicht waren es auch nur ein paar Sekunden, wie kann ich das wissen. Unterdessen ist mir entfallen, was du im Traum vorhattest, wie du darin auftratst, ob du was gesungen hast?

Ich bemühe mich so sehr das, was zwischen uns und mit mir neben dir passiert, nicht im Griff haben zu wollen; in einem Moment. Im anderen stelle ich bekanntlich Regeln auf – die Liebschaft ist von montags bis mittwochs inaktiv, die Liebschaft hat den allgemeinen Regeln der Schwerkraft zu gehorchen –, die beiden Momente wechseln einander schneller ab, als dass im Tessin ein Sturzregen auf die seufzende Hitze und auf die Hitze wiederum ein Sturzregen folgt. Wenn ich das schreibe, fällt mir ein, wie ich mal in Verscio an einem Plastiktisch und unter einer Palme sass, als-

Die Nabelschnur pulsiert noch, wenn das Kind zur Welt kommt, wusstest du das, die lässt man auspulsieren. Oder abpulsieren. Fertigpulsieren. Kann sein, dass sie die in deinem Fall sofort durchgeschnitten haben für die Reanimierung. Das wird in den ersten Wochen deines Bestehens zu einem geschwächten Immunsystem geführt haben.

Heute stutzen sie das Welthaar. Auf den Trottoirs und in den Büschen standen Menschen in Gelbwesten und rasierten das Grasfell. Die Reste lagen zermäht auf den Strassen und erinnerten an die einzelnen Haaren, die einem nach der Rasur im Nacken kleben geblieben sind, die den Rücken runter gerieselt, pieksen, während man friert, auf einem Schemel und im Unterleibchen.

Andere, die, die in den Wäldern, unter Trauerweiden an Seen gebären, lassen die Nabelschnur an der Plazenta dran, bis sie von allein abfällt, das ist auch nicht das Allergescheiteste.

Mit Sicherheit gefiele das, was ich dir schreibe, wem anderen besser. Und doch ist es für dich, scheint mir. An dich gewandt. Es wäre etwas anderes, wenn es nicht du wärst, an die ich denke, die hier mit ihren Augen vorbeikommt. Hallo Peluz Augen. Hallo deine Pupillen, hallo dein blinder Fleck.

Wohnst du in einem Blinzeln?

Du fragtest, von welcher Jahreszeit ich am liebsten tränke. Als erstes fällt mir natürlich der Sommer ein, weil ich den Sommer über die Jahre an mich zog, als sei ich die, die ihn schlechterdings verwaltet, dann wird mir klar, dass der Frühling exquisiter schmeckt und mehr noch wie ein Versprechen. Und wählen täte ich zuletzt dann doch den Herbst, weil ich von ihm am wenigsten weiss, wie er ist im Mund.
Der Winter kommt nicht in Frage, der hat dieses Jahr schon zu lange gedauert, und morgens, wenn ich meine spröde Zunge bewege, hab ich auch jetzt im Mai noch Halsweh zum Erwachen.

Viel zu selten, dreimal am Tag höchstens, fällt mir ein, dass es geschickter ist, nichts zu wollen. Dann meine ich kurz, dass es nun schon so weit ist, dass ich nun schon nichts mehr will, nur weil ich inne gehalten hab, während rund herum alles weiterhin stürzt und zappelt und rüttelt und schnauft und will und will und will.
«Die Freude, nichts zu sein.» Simone Weil
Oh. Diese Freude, nichts zu sein. Ich verwechselte sie vorhin mit meiner Unbedarftheit. Ich dachte, ich freue mich, nichts zu sein, und dann wurde die Freude am Nichts sein wollen so gross, dass ich fast das Fenster aufgerissen und diesen Zustand laut über die Dächer ausgerufen hätte. Und das scheint mir dann doch eher das Gegenteil von nichts zu wollen oder gar, nichts zu sein.

Denn mein Nichtswollen ist eine getarnte Hochstimmung.
Mein Nichts sind die winzigen von der kalten Bise roten Hände eines Kindes im 20er Bus, die Stimme eines Mannes, die so tief ist, dass alle sich umsehen, als hätte wer die Tür zum Keller aufgetan, mein Nichts ist der müde Blick eines Hundes und die Weise, wie er sich über den Boden breitet, ähnlich einer haarigen Flüssigkeit, es riecht nach Benzin, nach Bratfett und Pneu, als ich aussteige und darüber fast in ein Jubeln gerate.
Eine Minute lang lebe ich in einer Hochstimmung, die sich meinen Worten entzieht, schreibt Willhelm Genazino. Es ist schade, dass du, Peluz, jetzt nicht bei mir bist. Dann könnte ich dir, indem ich dich an meiner Beobachtungsflut teilhaben liesse, die Idee einflößen, dass es bereichernd ist, mich zu kennen, haha!

...

Unterdessen bin ich in der Bibliothek am Lerchenweg. Hab grad meinen Computer dem Strom angeschlossen und musste dazu mit meinem Stuhl siebzig Zentimeter in Richtung meiner Tischnachbarin rollen, die seit sie hier sitzt, irgendwie entnervt scheint, (Mund offen, Atem nach oben schickend, bevor sie sich ausatmend beinahe stöhnend wieder über das Dokument beugt -Migrationsrapport), und ich rückte so gezielt und selbstsicher zur Steckleiste heran, dass ihr klar werden musste, dass ich furchtlos war und mich ihre Entnervtheit kalt liess.
Nicht, dass ich das in dem Moment so dachte, ich erkannte es bloss in der Vehemenz meiner Gestik.

Ein Geschleier am Himmel, hör auf, so schön zu sein, Welt, dachte ich, liess das Gesicht zwischen die Seiten fallen. Statt Welt nimm Wult, schlägt Ilse Aichinger vor, Wult, das ist ungeschickter. Hör auf, so schön zu sein, Wult! So ist alles halb so wilt.

Sie stand mit ihrem Leben in meinem Türrahmen.
Sie stand im Türrahmen, ihr Leben unter dem Arm.
Sie stand in meinem Türrahmen mit dem, mit ihrem ganzen Leben. Besser sagen. Besser sagen. In meinen Texten steht überall: Besser sagen.

Bibliothek schliesst.

Das Welthaar ist unterdessen vom Weg geräumt, die Grasränder, gestutzt sehen jung aus und noch etwas blöd.
Tag Ende.

...

Nächster
11. Mai 2022
Oh, ich hab noch immer 2022-

Bin gestern Abend nochmal raus. Weil das Licht irgendwie spinnte.

Sie stehen immer in Türrahmen rum und schauen mich ständig an.
(Marlene Dietrich in einem Film)

Wenn du neben mir liegst, bemerke ich einen schnellen Wunsch, den nämlich, zu sagen: Ich möchte, dass es dich noch lange gibt. Und dann den noch Platteren und aber gewiss ehrlichen dranzuhängen: Ich sei da, neben dir, für dich. Weiss schon, dass ich vorsichtig sein muss mit Sätzen wie diesen, und dachte an F, von dem ich meine ganze späte Jugend und junge Erwachsenheit hatte hören wollen, dass er da sei neben mir für mich, bis ich tot bin nämlich, egal was komme. Und er konnte es nie aussprechen, weil er genau wusste, dass Widrigkeiten zu erwarten waren.
Letzthin beim Telefonieren kam F. darauf, dass er es hätte sagen dürfen, dass er es in dem Moment bei aller Unberechenbarkeit der Folgejahre und Jahrzehnte hätte sagen dürfen, sofern ihm in jenem Moment danach war. Hier vielleicht ein williges Zitat von Theunissen: «Die Gegenwart scheint in der Tiefe anderes als Zeit zu sein.» Ja, ja.

Höre schlechte Podcasts über Sex.

Als wir uns kennenlernten, hab ich dich ein bisschen unheimlich gefunden. Wer rezitiert heute noch Gedichte an Bars, seriöse Gedichte und erst noch Uralte. Ich hatte Erdnüsschen geschluckt, nichts zitiert, mit dem Löffelchen zuerst, dann mit der ganzen Hand die Nüsse aus dem Sektglas geschaufelt.
Um ein Uhr morgens trugst du «Die Pole» vor, am Bartresen, so dass in meinem Gehirn eine Lücke entstand, ich nicht mehr wusste, wo ich dich schon mal gesehen hatte und weshalb ich deinen Namen kannte. Meine Bilderzeugungsmaschine stockte, ich hörte nur noch Laute. Und als du fertig zitiert hattest, stand mir kein einziges Wort mehr zur Seite.
Ich glaub, ich bin dann noch einmal rüber in den Tanzraum, im Lichtflackern mich verrenken.

Später fuhr ich auf einem viel zu kleinen Fahrrad nach Hause, das weiss ich noch und wie ich in meinem Bett gegen drei Uhr morgens nach dem von dir zitierten Gedicht gegoogelt hab.

Kae Tempest schreibt, gesprochene Gedichte brächten Ausgeglichenheit in einen Raum. So, so.

Kann sein, ich dachte an dich, noch einige Tage, in einer halbbewussten Nebensächlichkeit, so wie einem ein eingängiges Lied noch ein paar Tage nachgeht.

Ich werde mich entschlossen verirren, das sagtest du letzten Donnerstag. Als sei ich ein Gestrüpp oder ein Wald, los, verlauf dich. Auch ich werde mich bald ganz in dir verirrt haben, werde mir ein Stück weit abhanden gekommen sein. Das übte ich heute Morgen mit einer Schülerin: Futur zwei.

Acht Uhr jetzt. Heizung nochmals angedreht. Die Füsse daran gedrückt. Unerwünscht Erinnerung an Weihnachten.

„Lieber Paul Celan, schreibe diese Zeilen in einer weissen Sommernacht – ebenso unergründlich wie im Winter die Polardunkelheit – ebenso günstig für Heimweh auf allerlei Art. (…)“ – Nelly Sachs

...

Liebe Peluz, schreibe diese Zeilen entlang einem Brief, der im Juni und vor 64 Jahren in Paris geschrieben wurde, eine Nacht, günstig für Heimweh auf allerlei Art.
Diese Nacht heute ist eine, die noch einmal zum Winter gehört, die sich anschickt, kalt zu werden, kälter zu werden später. Zwei rote Lichter, hinter dem Fenster, ein Lieferwagen, erinnert an Herzschläge. Wer will behaupten, das Herz im Stockdunkeln unserer Körper sei eine pochende Leuchtapparatur?
Und ich sollte raus, mit dem Hund, einmal um die Ecke zum Pinkeln.
Nach dem Lieferwagen ein schwarzes Auto, bis an unseren Garten ists herangefahren, ein Mann steigt aus und fischt – siehe da – von der Rückbank eine Tüte. Ich hätte gerne geschrieben ein Kind, aber es war eine Tüte, die er vom Rücksitz holte.
Ich ziehe mir über die Socken noch ein paar zweite an.

Wir brauchen das Vergangene nicht, hat mir mal ein Engel gesagt, den ich nicht so mochte und legte damit einen Satz in meine Hände, wie eine Waffe, die ich nicht brauchen wollte.

Ein anderes Mal wollte ich ein vergnügter Mensch sein und jetzt ziehe ich uns durch die Wörter wie durch eine halbfinstere Suppe.
Liebe ist kein Trost, sagte Simone Weil. Sie sei Licht.
Und Einstein wollte, wie alt er da war, weiss ich nicht, den Rest seines Lebens damit zubringen, darüber nachzudenken, was Licht sei.

Ich habe auch grad nichts besseres vor.
N.

 

Die Autorin

Noemi Somalvico veröffentlichte 2022 ihren Debütroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» (Voland & Quist).

Auf splatz.space ist von Noemi bereits «Was ist heute bei dir passiert» erschienen.

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