Eine schwarze Brille hat mal mir gehört, ich habe sie verloren. Liegengelassen, so wie mir in jener Zeit einiges abhanden kam, Brille, Kleidungsstücke, und mein Sinn für das Unbeschwerte. Mit einer Maulwurfsbrille als Ersatz, einer alten, mit unzureichender Korrektur, fuhr ich nach Marseille. Einem beinahe unbekannten Liebhaber hinterher, der meine Hoffnung in seinen Koffer gepackt hatte. In Marseille, wo er über Kriminalität forschte, bin ich in einem Hostelzimmer gesessen, das kein Fenster hatte, und die Tage sind nicht vergangen. Oder erst im Nachhinein.
Zwei Tage nach meiner Ankunft versuchte ich an Rauschmittel zu kommen. Der Liebhaber lachte, als er davon hörte, ob ich mich ganz öffentlich an seinen Kriminalitätsstudien beteiligen wolle? Nein, es war mir bloss als gute Idee erschienen, mein Dasein mal kurz auf den Kopf zu stellen und all das Unbrauchbare da raus rieseln zu lassen. Als ich aber ein paar Dealer, die auf einem Parkplatz Kartentürme bauten, nach LSD fragte, wurde mir mit beinah rührender Freundlichkeit der Weg zur nächsten Apotheke gewiesen.
Wie wärs mit einer neuen Brille, schlug meine Freundin Herold per SMS vor. Du musst doch scharf sehen, sonst verschwimmen dir bald auch noch die Gedanken.
Die schwammen schon lange.
Mit geschlossenen Augen stand ich unter der Dusche, mir behagte das Gefühl meines lang gewordenen Haars, wenn es sich mit dem Wasser über meinen Rücken zog. Ich brauche nicht scharf zu sehen, dachte ich. Mag sein, dass ich insgeheim die Hoffnung hegte, stattdessen mein Gehör zu schärfen oder aber einen zusätzlichen, einen Geheimsinn zu entwickeln.
Der Liebhaber, er wohnte seinerseits in einem schäbigen Unterdererdezimmer, liess sich tagsüber nie blicken. Nur abends tauchte er auf, eine Flasche Reiki in der Hand. Reiki heisst Lebensenergie auf Japanisch, behauptete er. Aber das, was in der Flasche war, diese Flüssigkeit, die uns geschmeidig machen sollte, hiess Raik, wie ich später herausfand.
Der Liebhaber setzte die Flasche an, trank Schlucke, die in seiner Speiseröhre hallten.
«Was ist heute bei dir passiert?», fragte er.
Ich dachte an mein Irren durch die Strassen von belle de mai, immer dem aktuellsten Bedürfnis hinterher, Harndrang, dann auch schon wieder Koffeinbedarf, Hunger, wieder Harndrang, Erholungsbedarf. Nichts gebündelt. Alles in halbstündlich freundlichem Abstand zueinander, sodass ich kaum gesättigt auch schon wieder einen Platz für eine Siesta suchen musste und alsbald so etwas wie Bäume gefunden, auch schon wieder aufs Klo hätte gehen müssen.
Ich verliess meinen eben ergatterten Platz unter ein paar Platanen, um mich hinter einem Busch hinzukauern, und ich dachte, der Boden wird mir hier noch dankbar sein und wässerte. Als ich die Hose hochgezogen hatte, sass eine ältere Frau auf der Schattenbank; dass ich meinen Hut dort hinterlegt hatte, quasi als Depot, schien sie nicht zu interessieren. Manchmal ist mir die Art, mit welcher Selbstverständlichkeit andere Raum beanspruchen, die Füsse hochlagern, zeltgrosse Zeitungen ausbreiten, schleierhaft. Obschon die selbigen vielleicht nicht in lichte Gebüsche pinkeln würden. Ich habe schon auch meinen Mut, sagte ich mir. Und habe hin und wieder gegen das eine oder andere belangloses Gesetz verstossen.
Der Urin war nur gemächlich versickert, zu trocken der Boden und dem Liebhaber, der mir jetzt unverhohlen ins Gesicht sah, sagte ich: Ich war beim öffentlichen Turnen im Park.
Er fragte nicht nach, erzählte von einem Meeting mit einer Mafiaexpertin.
The French Connection, sagte er.
Dann legte er mir eine Hand aufs Knie. Oder schob sie unter mein T-Shirt.
An dieser Art Intimität war das meiste verkehrt. Und doch kam ich nicht dazu, etwas Schlüssiges zu empfinden. Ich deponierte meine Maulwurfsbrille auf dem Nachttisch. Fasste eins des Liebhaberbeine. Wühlte in den chaotisch wachsenden Haaren. Er unterdessen lehnte sich über die Matratze und wühlte in seinen Taschen nach einem Kondom.
Meine fehlende Ergriffenheit irritierte ihn nicht, er hatte mich nicht anders gekannt, er schob sich in mich hinein. Ich dachte: Ich werde immer leichter, ich dachte es als Witz. Einmal fragte er mich, warum ich ihn nicht küsste. Ich küsste ihn nie, ich liess auch kein einziges Mal mein ganzes Menschengewicht auf seinen Bauch sinken.
Nachdem der Liebhaber ein Liedchen gesummt hatte, offenbar was neu Erlerntes auf Französisch, ging ich duschen. Fünf Kabinen nebeneinander, ich verschwand in der hintersten und atmete tief aus. Als er mir dieses Mal nachschlich, um sich unter den schmalen Duschkopf zu stellen, drehte ich das Wasser auf kochend heiss, sodass er erschrak, zurückzuckte, und ich sagte, ich müsse mindestens so heiss, ich fröre sonst. Da erwiderte er tonlos: Kein Problem, dann gehe er in eine eigene Kabine. Ich nickte und sah seine Füsse, die sehr runden Zehen und ich schämte mich für meine kompromisslose Fiesheit, da diese trolligen Füsse, da der Liebhaber für meine Schieflage nicht verantwortlich war.
Wir spazierten schweigend durch die Stadt, hin und wieder sah ich am Ende einer Strasse schon das Meer, mit seiner Ewigkeit beginnen.
Eine SMS traf ein. Herold fragte mich nach den Temperaturen in Marseille und schickte mir ein Bild aus Basel; die Johanniterbrücke in einem mystischen Nebel.
Meine Antwort war der Asphalt unter meinen Turnschuhen. Wo Kaugummi klebte und etwas hellrosa aus Plastik, vielleicht ehemals ein Seifenhalter.
Herold schrieb, wie geht’s?
Ich schickte einen anderen Ausschnitt des Bodens. Hier lagen lauter Zigarettenstummel.
Herold schrieb, kein Wort mehr übrig?
Ich esse Sesamstangen, schrieb ich und neben mir sitzt einer, dessen Namen ich mir nicht merken kann.
Ich muss zugeben, dass mir meine düsteren Antworten gefielen.
Herold schrieb, geh am besten Trampolinspringen. Und dann komm zurück.
Wo sich in Marseille die Trampoline befinden, habe ich nie herausgefunden. Wahrscheinlich gibt es unzählige in den Gärten der wohlhabenden Quartiere, wo Kinder ihre Sprungfedern trainieren, aber dort hin zu gelangen, an der Tür zu klingeln und zu sagen, Bonjour, je peux…?, lag mir nicht zuvorderst. Gewiss wäre ich beim Hüpfen beobachtet worden, argwöhnisch durch ein Küchenfenster. Und danach vielleicht noch zu einem Tee im Wintergarten eingeladen, wo Kinder mir ihre verschiedenen Kanarienvögel vorgeführt hätten.
Ich habe schon vielen älteren Menschen zugehört, die ihr Leben auf eine Weise zusammenfassten, als sei das eine ganz logisch aufs andere gefolgt. Und dann unverhofft das Geschäft meiner Tante übernommen. Und dann zehn Jahre im Kloster. Und dann gemerkt, dass es was ganz anderes war, was ich wollte. Ich fragte mich, ob ich später auch so würde erzählen können, ohne ins Grüne hinaus zu erfinden. Bis anhin war mein Leben eher aus Tagen bestanden. Der eine Tag rückte dem nächsten auf und löste ihn wortlos ab. Vielleicht würde sich im Nachhinein sagen lassen: Besinnungslose Zeit in Marseille im Frühling meines 33. Lebensjahrs, aber hätte ich dann nicht länger bleiben müssen, ein paar Jahre wenigstens.
Es war noch keine Woche vergangen, da stand ich vor einer Kirche. Zwischen anderen, die die Kirche fotografierten oder die Tauben, wenn sie aufflatterten und an eine andere Stadt erinnerten. Unter einem roten Schirm erklärte eine Frau auf Spanisch etwas zur Inquisition, niemand machte Notizen, alle sahen irgendwohin und folgten ihren Schritten entlang den Kirchenseiten. Ich dachte noch darüber nach, ob es mich freuen würde, jeden Morgen dasselbe am selben Ort zu erzählen, da umfasste auf einmal etwas mein Bein, ich hätte zusammen zucken mögen, aber die Berührung war so zart und so selbstverständlich, dass ich ganz langsam zu diesem, meinem rechten Bein runter sah. Es umschlang ein Kind mein Knie. Es hielt sich fest, als sei mein Bein ein sicherer Ort. Der einzige sichere Ort, den es hier in der Umgebung gefunden hatte. Ich spürte seine Fingerchen an meiner Wade, und die Haare seines schwarzen Schopfs. Es war vertieft im sich Festhalten und ich war vertieft im mich nicht regen, während etwas mich ergriff, aus einer weit entfernten Zeit hinauslangte.
Und ich wusste, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, dass der Schopf sich heben würde und mich, die Fremde erblicken, sich erschrecken.
An jenem Abend fragte der Liebhaber nicht nach, was heute bei mir passiert war. Obschon ich es zum ersten Mal so deutlich hätte sagen können. Das Kind, mein Knie. Er war, sobald auf meinem Bett, eingenickt, als wolle er von meinem Entschluss gar nicht erst hören. Der Liebhabermund klappte auf. Von der Deckenlampe kam ziemlich viel Licht in diesen Mund. Ich sah seine massgeschneiderten Zähne, die Zunge, es reicht, dachte ich und hätte fast laut gelacht. Sein Gebiss war ordentlich, nichts daran war auffällig, schief, ich hatte an diesem lückenlosen Gebiss nichts verloren, ich war seinem Koffer nachgereist und als müsse es jetzt sofort und in der Heimlichkeit unter seinem Schlaf passieren, räumte ich all meine Sachen zusammen und schlich hinaus.
Als ich mich umdrehte im Türrahmen, weil das dazuzugehören schien, überkam mich noch einmal Mitleid. Wie das, was ich empfunden hatte, als ich in der Dusche seine runden Zehen gesehen hatte. Wie er dort lag und von so vielen Dingen etwas wusste, nur nicht in dem Moment, in dem Moment wusste er nichts. Die Schlüssel klimperten, als ich sie auf den Tresen des Hostels legte, neben ein Heiligenbildchen.
Beim Trampolinspringen, schrieb mir Herold, werde einem das Frohe eigentlich aufgezwungen. Denn wenn du einmal hochspringst, federt dich das Trampolin wie von selbst noch ein zweites Mal in die Luft. Und gehst du dann leicht in die Knie, bist du als nächstes höher als geplant, erreichst du jenen toten Punkt, und bist du für den Bruchteil einer Sekunde die Kontrolle los. Dann gurgelt dir vielleicht etwas durch die Kehle hoch.
Als ich Herolds Nachricht las, fiel mir ein, woran ich früher stets geglaubt habe: Dass ein Mensch sich fortwährend selber überraschen konnte, insgeheim ein anderer werden und es später erst bemerken.
Es war so angenehm, etwas zu wollen, nach Hause zu wollen, zu Herold in die Küche und neben den rumpelnden Kühlschrank. Ich fürchtete auf einmal, noch auf dem Weg zum Bahnhof verhindert zu werden. Dass mich jetzt noch wer um Hilfe bäte, mir etwas Grosses in den Weg stellte oder ich in ein Auto gezerrt wurde, nachdem ich mir in den letzten Tagen hin und wieder eine Entführung gewünscht hatte. Ich wollte es senkrecht zum Bahnhof schaffen und kein einziges Mal auch nur über den Stiel eines Apfels stolpern.
Was ich gerade mag
Die Autorin Noemi Somalvico veröffentlichte 2022 ihren Debütroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» (Voland & Quist).
Noemi Somalvico liest am 16. Juni in der Berner Dampfzentrale.
Diesen Text hat Noemi für splatz.space geschrieben. Wer diesen Platz mag: Hier kann gespendet werden.
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