Willst du etwas trinken?
Ich habe heute einen Teil des Sets geändert. Die ganze Woche habe ich mir überlegt: Soll ich dieses neue Stück einbauen? Soll ich es nicht einbauen? Und heute Morgen bin ich aufgewacht und dachte: Ich werde es ändern. Also habe ich ein paar Stunden lang Sachen umgestellt, kam hier in die Dampfzentrale und machte den Soundcheck. Dann gab es Essen, normalerweise esse ich nicht, bevor ich spiele, aber das war gut.
«A Grisaille Wedding» ist ein gemeinsames Album mit Space Afrika. Wir teilen uns seit zwei Jahren mit Blackhaine ein Studio in Manchester. Eine Weile lange arbeiteten wir ohne klares Ziel, denn es war das erste Mal, dass wir ein eigenes Studio hatten. Es war sehr aufregend. We were just working on bits and bobs, and then everyone was getting busier – und ging seinen eigenen Weg. Josh Inyang von Space Afrika und ich sprachen über unsere Arbeiten, und wir spürten, dass wir von sehr ähnlichen Künstler:innen begeistert waren – und wir wollten auch mit diesen Künstler:innen zusammenarbeiten. Also sagten wir uns: Warum machen wir nicht eine Platte zusammen? Das war der am stärksten ausformulierte Teil: Wir machen eine Platte – und hecken aus, wie wir all diese verschiedenen Leute einbinden können. So fing das an.
Wir sind keine ausgebildeten Musiker, aber wir können spielen, wenn man uns einen Computer gibt. Also haben wir uns hingesetzt und ein Konzept entwickelt. Das Konzept ist so etwas wie das Herzstück, so arbeiten wir. Wir überlegten uns, worüber wir schreiben wollen, was wir machen wollen, welche Nuancen und Farben wir benutzen wollten. Wir einigten uns auf den Titel «A Grisaille Wedding» – wir sind beide sehr wählerisch, was Worte und die Bedeutung von Worten angeht. «Grisaille» ist ja für einen Grossteil der Musik von Space Afrika etwas sehr Offensichtliches, es ist sehr brutal und düster, man hört die Stadtlandschaften…
Wir wollten auch das Narrativ, das die Welt über den Norden Englands hat, «reclaimen». Es ist ja ein weit verbreitetes Klischee, dass der Nordwesten Englands ein dunkler, ärmerer Ort ist. Und wir griffen das auf mit dem Bild einer «Grisaille-Hochzeit», das uns sehr gefallen hat. Da ist dieses Graue, da ist aber auch die Hochzeit, die ein so bedeutsamer und so ein freudiger Anlass ist. Der Titel ist aber keine wörtliche Darstellung des Albums, sondern eine Metapher.
Wir brauchen so ein Konzept, damit wir arbeiten können. Wir spielen einfach so lange mit den Dingen und Sounds herum, bis wir etwas finden, das in den Kontext passt. Denn wir können uns nicht einfach hinsetzen und sagen: C-Dur 7! Banger! Und dann hämmern wir auf dem Keyboard rum und nehmen den Sound auf und all das. Wir verlassen uns auf ein Gefühl und auf das, was wir hören, sampeln, herumschneiden und ausweiten. Und wir fingen an, diese kleinen Stücke zu sammeln; wir arrangierten Features und so kam alles zusammen zu einem Album voller Soundstücke, die diese Space-Afrika-Welt erschafft. Ich wollte diese Welt mit direkten Stimmen und Gesängen ergänzen, nicht nur mit Stimm-Samples, die Space Afrika auf grossartige Weise benutzen. Denn ich wollte sehr präzise sein und die Sounds mit Geschichten und Charakteren füllen.
Wir beide lieben das Kuratieren. Und wir wussten genau, was die von uns angefragten Künstler:innen zu diesem Album beitragen können. So war das etwa bei Coby Sey. Sobald wir das Instrumental von «The Graves at Charleroi» gemacht hatten, dachten wir: Es gibt nur eine Person, die für diesen Track in Frage kommt. Es gibt aber auch Künstler:innen, von denen noch nie jemand etwas gehört hat, so wie bobbieorkid. bobbieorkid ist Mitglied einer Band namens eydn, die wir auf Soundcloud gefunden haben und in die wir uns verliebt haben. Ein bislang vergrabenes Juwel, amazing…
Der Grund, warum wir Musik machen, ist Katharsis, das gilt besonders für mich. Wenn es keine Emotionen – auch traumatische – auszutreiben gäbe oder nicht etwas in mir auszugraben wäre, würde ich wahrscheinlich keine Musik machen, weil es mich nicht interessiert, Musik nur um der Musik willen zu machen. Das wäre nicht wirklich der Zweck für mich. Das klingt jetzt verdammt kitschig, aber hier liegt die Kraft der Musik für mich: Es ist nicht einfach für mich, in Therapie zu gehen oder wirklich schwierige Gespräch zu führen. Ich mache es lieber so, dass ich all das mit dem Schreiben von Fiktion verhülle.
Das ist auch der Grund für die hellen Momente auf dem Album: Ich möchte das Gefühl haben, dass ich Fortschritte mache, dass weiter gehe – und nicht so sehr in der Vergangenheit verhaftet bin. Man muss in der Lage sein, auch die Freuden des eigenen Lebens in das Schreiben einfliessen zu lassen, mit all den Silberstreifen der Erfolge, die man hat.
Das ist die einzige Art und Weise, warum und wie Musik für mich funktioniert.
Der Nordwesten Englands ist voller Kultur. Manchmal kämpfen wir dagegen an, weil es dort so starke kulturelle Ikonen wie die Haçienda und Factory Records gibt. Doch wenn man etwas voranbringen will, muss man sich irgendwie bewegen, sich von der Geschichte lösen.
Der Norden ist für mich nicht Manchester. Denn Manchester ist nicht die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und in der die Geschichten meines Lebens entstanden sind.
Ich möchte die Geschichte der kleineren Orte Englands erzählen, der alltäglichen und banalen Orte, wo das normale Leben stattfindet und wo Kultur nicht so leicht verfügbar ist. Denn egal, wer man ist: Jede:r lebt das Leben dort, und jede:r hängt an kollektiven Leben, die in diesen Orten gelebt wurden. Und es lohnt sich, diese Geschichten zu hören. Das ist ein grosser Antrieb beim Musikmachen: Wie ein Ort wie beispielsweise Preston Charaktere hervorbringt und prägt. Und eine ganz eigene Art der Kommunikation hat. Das ist ganz anders als im Süden Englands. Für mich ist es aufregend, so etwas zu dokumentieren. Das ist das biografische Element der Musik, und das wird immer da sein, denn von dort kommen wir her, so machen wir das, weil wir immer aus uns selbst schöpfen.
Wir sind so sehr von Orten geprägt und beeinflusst. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass viele Leute hier in Bern auf Noise-Musik stehen – wie an diesem Festival zu sehen ist. So etwas fasziniert mich, denn es muss etwas in der DNA des Ortes, der Stadt sein. Manche Menschen werden aus einem bestimmten Grund zu etwas getrieben. Es ist verrückt.
Manchester ist im Moment sehr reich an Kultur. Ich bin immer in einem Dilemma, etwa bei Interviews. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass in einer Stadt wie Manchester so viele Musiker:innen Blumen verdient haben – und im Rampenlicht stehen sollten. Dort stehen nur wenige, aber der Underground ist der Wahnsinn. Da passieren gerade die verrücktesten Sachen. Auf dem letzten Album von Rat Heart hats diesen Song, «Pams Plants Are Full of Ants», es ist einer der besten Songs, den ich je gehört habe. Und er ist gleich um die Ecke entstanden. Rat Heart macht sein eigenes Ding, aber er hat die Blumen verdient.
Auch Sockethead ist genial, er macht Musik auf so eine verrückte Art. Er ist ein guter Freund von mir, der mir auch sehr geholfen hat. Wenn man seine Musik hört, weiss man: Das ist er als Person, sein Charakter, er ist ein Maler, und er macht Musik wie ein Maler. Es gibt Acts wie FUMU, Michael J. Blood, es gibt so viele Leute, die auf mutige Art und Weise Sachen machen und sich nicht um Technik oder das Spiel der Musik und der Presse scheren. Das verdient viel mehr Anerkennung.
Mit meiner NTS-Show begann ich während dem Lockdown. Ich bin ein wirklich schlechter DJ, was das Beatmatching angeht. Ich habe mir deshalb überlegt, wie ich diese Show kreativ nutzen kann. Ich suche für diese Stunde Radio jeweils aktiv nach Musik, die mich interessiert, höre genau zu, und nutze sie auch, um mit dem Mixing und Tonhöhen zu spielen, neue Ideen auszuprobieren. Ich probierte auch Material aus, das ich gemacht habe und bei dem ich mir nicht ganz sicher war. Dank der Show konnte ich einfach loslassen und darüber nachdenken und mit neuen Ideen weitermachen. Eine solche Sendung gibt dir einen Grund, aktiv Dinge zu machen.
Beispielsweise habe ich nun ein Klavier. Meine Mutter arbeitet als Lehrerin und ihre Schule wollte ein Klavier wegwerfen und sie hat mich angerufen, sagte mir: «Ich weiss, dass du schon immer ein Klavier haben wolltest. Es gibt eines in der Schule.» Sie rief also diese beiden irischen Traveller an, die mit einem Lieferwagen ankamen, das Klavier auf den Rücksitz packten und es dann durch das Treppenhaus trugen, und wir stellten das Klavier einfach hin. Und nun kann ich Klavier üben, nehme es mit dem Telefon auf, ganz ohne zusätzliche Mikrofone, und baue das in die Sendungen ein. Ich spiele einfach, finde Dinge heraus und habe dank dem Radio etwas, das jene Zeit dokumentiert, in der ich kreativ war. Es ist eine Dokumentation der Zeit, ein Tagebuch meiner Ideen, das zeigt, wie sich der Klang meiner Musik verändert.
Zwischen meinem Debüt und dem jetzigen Album gab es eine Zäsur. Ich denke, das hat auch mit dem Leben in Preston zu tun. Für mich war Underground und experimentelle Kultur nicht leicht zugänglich oder greifbar; ich wuchs mit Dingen auf, die leicht abseits des Mainstreams lagen. Ich war und bin ein grosser Frank-Ocean-Fan, und das hat mein Debüt sehr beeinflusst. Einige Dinge, die ich schreibe, sind immer noch ähnlich, aber ich hatte damals noch keine Techniken oder Sounds entdeckt, um die Dinge, die ich wirklich sagen wollte, zu akzentuieren. Das war vor dem Lockdown. In Manchester lernte ich dank Blackhaine Noise kennen, und damit einen ganz neuen Ausdruck, das war sehr dunkel und kraftvoll. Für mich muss es immer eine Dynamik geben, um etwas richtig zu fühlen. Und Noise war ein neues Ausdrucksmittel und eine neue Farbe, um diese Gefühle auszudrücken. Es hat mir geholfen, dass ich beim Musikmachen diese Texturen gefunden habe, die ich unbedingt finden wollte. Und dann war da noch all die Zeit, in der ich herumspielte und besser wurde in dem, was ich mache. Doch das Schreiben, die Texte, kommen noch immer von der gleichen Quelle wie zuvor.
Für mich sind Performances sehr wichtig. Und wegen meinen technischen Beschränkungen muss sich die Performance auf eine andere Art entwickeln. Für mich ist die Performance ein Fenster, in dem ich Zeit habe, all meine Emotionen herauszupressen. Das ist pure Katharsis. Es ist verrückt: Wenn ich auftrete, bin ich ein völlig anderer Mensch – ich kann wie einen Schalter umlegen, das dauert nur eine Sekunde. Ich trete nicht für jemand anderes auf. Ich mache es für mich. Ich muss diese Sachen aus mir herausholen. Diese Person aus mir vertreiben und zwar auf eine wirklich sehr intensive Weise. Die Grösse des Raumes spielt keine Rolle, die Anzahl der Leute auch nicht, denn all das ändert nie etwas an meiner Performance.
Ich habe eine Weile gebraucht, um in diesen Zustand zu kommen und Dinge zu entdecken. Es ist etwas, das ich wirklich brauche und für meine Existenz unerlässlich ist. Es ist verrückt. Amazing.
Full of Lava 2023
Hier, nehmt dies und hört zu und schaut zu (neben Rainy Miller natürlich): Beispielsweise Elischa Hellers Weihrauch-Trauer-Hyperpop-Zeremonie. Oder Evicshens Plattenspieler-Nagel-Stunt-Show. Oder Tirzahs und Coby Seys «trip9love…???»-Club-Version. Oder Slauson Malone 1 mit Cello und akustischer Gitarre – und jenen Schreien, die noch immer heimsuchen. Oder natürlich Eartheaters Popshow.
All das gabs vom 16. bis 19. November am Full of Lava in der Berner Dampfzentrale. Brauchts ein Label für all diese Musiken? Vielleicht einfach: experimentelle Zugänge zu einer Pop-Musik full of Gegenwart. Dass diese auch an einem Ort wie Bern Platz haben: umso schöner. Bis im nächsten Jahr.
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