Angefangen habe ich als zehnjähriges Mädchen in der Zirkusschule Basel. Zwei Jahre später ging ich in den Kinder- und Jugendzirkus Rägeboge. Als Kinder und Jugendliche hatten wir dort viel Freiheit. Wenn ich zurückschaue, dann war das eine wichtige Zeit für mich. Es hat mich nicht primär interessiert, mit den anderen Kindern zusammen zu sein. Ich wollte einfach trainieren, einfach machen. Das hat mich vorangetrieben. Vielleicht klingt das extrem, aber das «Machen» wurde schon von da an Teil von mir als Künstlerin, die ich heute bin. Ich erinnere mich an eine Aufführung, da war das Drahtseil der Laufsteg und ich habe mir und den anderen Kindern aus Plastiksäcken Kostüme genäht. Ich hatte meinen Freiraum, ich konnte mich dort ausleben. Ich erzähle das, weil es wichtig ist für das, was nachher kam – oder nun ist.
Mit 18 habe ich für meine Maturaarbeit mein erstes Solo kreiert und mein erstes Budget geschrieben. Ich bin zum Architekturbüro, das für das Gundeldingerfeld-Areal verantwortlich war, und habe gefragt, ob ich hier meinen Luft-Ring aufhängen kann, an dieser Schwerlastleiste. Ich hatte ein Video eines Tanzstücks gesehen, dort gab es so ein Bühnenbild. Ich wusste, so etwas will ich auch. Aus Baufolie begann ich mit der Hilfe von Freundinnen Streifen zu schneiden. Daraus wurde ein Zylinder, den ich über einen Flaschenzug hinaufziehen konnte, so ergab sich eine Art Raum. Liess ich diesen Zylinder herunter, kam der Luft-Ring zum Vorschein, an dem ich performte. Einfach eine Idee umsetzen, das war sehr wichtig.
Zusammen mit meinem damaligen Freund Julian begannen wir Stücke zu machen. Das erste war ein Strassenstück. Wir haben das Auto meiner Eltern vollgepackt und sind einen Sommer lang durch Frankreich gefahren, zusammen mit Lucien, einem anderen Freund, der Musik gemacht hat. Das Stück haben wir auf der Strasse gespielt. Das war der Ausgangspunkt für andere Stücke. Wir waren sehr produktiv.
Eigentlich wussten wir nichts. Wir hatten keine Ahnung, was es auf der Welt an Zirkus sonst noch gibt. Als Kinder haben wir beide den Zirkus Monti gesehen. Der Zirkus Knie entsprach nicht dem Geschmack unserer Eltern, darum haben wir das nicht gekannt. Wir hatten einen sehr engen Blick, aber eine unbändige Lust zum Machen. Und wie man das in dem Alter vielleicht so hat, zwischen 18 und 22, dachten wir, wir hätten etwas Neues entdeckt! Wir nannten es «Artistik-Performance».
Unsere Inspiration entsprang aus der Begeisterung, dass wir zusammen Stücke erfinden und diese dann auch durchziehen. Für unser erstes Stück hat Lucien das Märchen vom Fischer und seiner Frau umgeschrieben. Das Stück nannten wir «Willi & Anna». Julian war Willi, er hat Diabolo gespielt, und ich war Anna auf dem Trapez. Auch unsere Compagnie nannten wir Willi & Anna. Im zweiten Stück, das zweite auf der Strasse, wurden sie zu unseren Clowns. Damals. Nun wären die anders. Vielleicht waren es ein wenig unsere inneren Kinder? «Willi, Anna & der Mond» hiess es. Diese zwei Stücke, die hatten eine Geschichte.
Dann bewegten wir uns weiter: weg von den Charakteren, mehr in Richtung Bilder und Formen im Raum. Wir begannen mit einer Loopstation zu arbeiten, nahmen Geräusche und Stimmen auf. Die Geräte waren die Formen – Jonglierbälle, der Ring. Die choreographische Frage war: was kann ich mit allem, was rund ist, machen? So hat es sich von der Geschichte in die Abstraktion gewandelt.
Wenn ich für die Bühne arbeite, habe ich oft ein Bild vor mir. So kommen mir die Ideen. Und wenn ich zum Beispiel ein Buch gestalte, habe ich die Bühne im Kopf. Es ist ein Wechselspiel. Wenn ich am Computer am Entwerfen bin oder mit dem Bleistift auf dem Papier, überlege ich mir eine Dramaturgie. Auf der Bühne ist das Visuelle der Anfang.
Ein wichtiger Ort, der meinen Blick für Zirkus öffnete, war damals das Festival cirqu‘ Aarau, das es bis heute gibt. Wir hatten von Roman gehört, er war selber Artist und hat das Zirkusfestival cirqu‘ Aarau aufgebaut und kuratiert es bis heute. Wir haben ihm eine E-Mail geschrieben und er hat sich darauf einen Durchlauf von einem unserer Stücke angeschaut, in Bern in der Via Felsenau, im stinkenden Keller, wo wir jeden Dienstagabend geprobt hatten. So hatten wir eine Verbindung und wir guckten uns ein Stück, das er in Aarau programmiert hat, an. «FACE NORD» von Un Loup pour l‘ Homme war das. Es war ein Stück mit vier Akrobaten, die zusammen Spiele spielten. Die Zuschauer:innen sassen in einer Arena. Die Tribüne war vierseitig aufgestellt und in der Mitte war ein grünes Spielfeld, fast wie eine Tennisanalogie. Es hat mich berührt, ich konnte nur nicht einordnen, warum. Es war einfach inspirierend.
Dann war da Sanna, sie ist Seiltänzerin und gab einen Workshop an der Zirkusschule in Basel, wodurch ich sie kennenlernte, und dann gab es Jonas, er ist Jongleur. Diese Drei waren es, die uns von den Zirkusschulen erzählt haben. Und damit tauchten auch die Fragen auf, was denn das heisst, welche Schule soll ich machen, passe ich dorthin und kann ich das überhaupt?
Das war alles während dem Grafikstudium in Bern. Ein Freund meines Vaters, ein Künstler, hat mir – während ich an meiner Maturaarbeit war – den Vorkurs in Luzern empfohlen. Das war ein sehr tolles Jahr. Der Entscheid, anschliessend der Grafik zu folgen, war aber eher ein intuitiver. Es war das, was gerade präsent und frisch war.
Ich konnte das Solo der Maturaarbeit zwei, dreimal aufführen. Daraus habe ich eine Version weiterentwickelt mit Bildern, die auf mich selber projiziert wurden und die wiederum jemand gefilmt hat, nur so close-ups. Erkennen konnte man nichts, es war nur ein bewegtes Bild.
Fotografien davon nahm ich in mein Portfolio für das Grafikstudium in Bern, mit dem ich mich beworben hatte. Dort hat sich die Grafik mit dem Zirkus also schon vermischt – und ab diesem Moment lief das parallel.
Julian hat sich vor mir die Frage gestellt, ob das Absolvieren einer Zirkusschule das richtige ist oder nicht. Er ist dann nach Tilburg. Für mich war klar, ich schliesse zuerst das Grafikstudium ab. Nach einem einjährigen Praktikum habe ich gemerkt, nun ist der Zeitpunkt da, nun muss ich eine Zirkus-Ausbildung machen, wenn ich das will. Es hat mich interessiert, dort noch tiefer zu graben. Während dem Praktikum habe ich parallel trainiert und mich beworben. Volle Kraft voraus. Ich habe mich nicht an vielen Schulen beworben. In Paris, an der Académie Fratellini, bin ich bereits in der ersten Runde rausgefallen. Dann eben in Tilburg, weil ich wusste, Julian war dort, und am Lido in Toulouse. Ich bin an die Prüfung in Tilburg, und dort hat es geklappt.
Beworben habe ich mich mit dem Trapez, das war ein Bauchentscheid. Das Trapez ist ein Zirkusgerät, das schon eine lange Geschichte im Zirkus hat. Ich hatte viele Geräte ausprobiert, Drahtseil beispielsweise bin ich auch viel gelaufen. Aber ich dachte, das Trapez besitzt noch eine Stange, man kann zwischendurch sitzen, man muss sich nicht die ganze Zeit halten wie am Vertikalseil. 2016 habe ich begonnen. Die Grafik nahm ich mit, machte Flyer und Plakate und ein Buch für meinen Vater. Vier Jahre habe ich in Holland gelebt. Wir waren zwei Personen, die statisches Trapez studiert haben. Zwei Stunden pro Tag trainierst du deine Disziplin, daneben gibt es andere Fächer wie Trampolin, Akrobatik, Tanz, Theater oder Zirkusgeschichte.
Der Zirkus hat einen militärischen Ursprung. Gladiatorenkämpfe und später Dressurreiten. Zirkus fand in Gebäuden statt, bevor das Zirkuszelt als Aufführungsort genutzt wurde. Oft waren es Kunstreit-Darbietungen. Darum heisst es auch die Manege. Dann waren es die sogenannten Saltimbanques, Gaukler:innen und Kunstreiter:innen, die mehr und mehr mit einem Zelt umherreisten.
Zu den Menschen gehen, nahe bei den Menschen sein, das ist immer noch Teil der Zirkusszene und des Zirkus, obwohl das Arbeitsfeld heute sehr viel breiter ist. Das Öffnen der traditionellen und zeitgenössischen Zirkusszene hat verzögert stattgefunden. Ist Zirkus romantisch? Ja, romantisch ist Zirkus vielleicht auch darum, weil es direkt ist und frei. In der Freiheit ist die Romantik. Dass Zirkus auch roh und rau ist, geht in diesem Bild vergessen. Obwohl das auch etwas sehr Verbindendes hat.
Im zweiten Studienjahr habe ich begonnen, an einem Solo zu arbeiten, das letzten Herbst Premiere hatte. Ich habe sehr lange daran gearbeitet, oder immer wieder. Das hat es gebraucht für dieses Projekt. Es heisst «Questions to the Endless». Es geht um eine Dreiecksbeziehung zwischen dir als Zuschauer:in, meinem Alter Ego in Form eines Lautsprechers und mir. Das Alter Ego stellt die ganze Zeit Fragen, und ich auch. Im Stück gibt es die Sprache, das Trapez und viele Fragezeichen.
Mit Nina arbeite ich als Duo zusammen. Sie ist, wie ich, auch Trapezartistin. Zusammen arbeiten wir gerade an einer längeren Stange, diese ist 2.5 Meter lang. Das choreographische Material ist sehr visuell, es ist zunächst synchron und bewegt sich ins asynchrone, wie ein riesengrosses Kaleidoskop. Wir machten das nicht bewusst, das hat sich durch die Improvisation ergeben. Improvisation ist sehr wichtig, alleine oder im Duo. Mit Nina machen wir es so: Wir gehen zum Beispiel in eine zehnminütige Impro. In dieser Zeit geht es darum, sich mit dem Thema und mit uns möglichst ineinander zu verstricken und neue Wege zu finden. Dabei filmen wir uns. Anschliessend schauen wir uns das an und sagen, das und das ist spannend, das kann weg. Oder eine von uns ist am Trapez und die andere schaut zu, und dann geht es vielleicht darum, die Linie, Parallelen zum Gerät oder die bequemste Position zu finden. Es gibt viele Möglichkeiten, aber so arbeite ich oft.
Beim neusten Solostück war es ein anderer Prozess, da habe ich immer wieder aufgeführt und Neues ausprobiert. Zu Beginn hatte ich noch Papierzettel in meinen Kleidern mit Fragen. Immer wieder habe ich einen Zettel hervorgeholt und vorgelesen. Das ist dann wieder weggefallen, dafür kam der Speaker. Für mich ist es oft ein Ping-Pong zwischen der Idee und der Bewegung. Ich merke immer wieder, dass es dann, wenn ich es mache, anders ist als ich es in meinem Kopf habe. Oder ich kann in Richtung Technik gehen. Soll es dynamisch sein? Dann gibt es diesen und jenen Trick. In meiner physischen Praxis gibt es aber dort ganz klare Grenzen. Denn so wie ich arbeite, trainiere ich nicht jeden Tag, also fallen schon Dinge weg. Zudem habe ich im Bühnensetting meines Solostücks keine Matte, also fallen weitere Dinge weg.
Diese Einschränkungen gibt es, aber ich habe Freude daran bekommen, mit diesen Einschränkungen zu leben. Das war nicht immer einfach. Du kommst aus einem «Gumpischloss», aus der Ausbildung heraus, wo du alles mögliche Material hast, sechs verschieden dicke und verschieden weiche Matten unter dir, um zum Beispiel das Fallen zu üben. Es hat auch Longen, mit denen man twisten kann. Aber wenn du nicht mehr fünf bis sechs Tage in der Woche aktiv bist, dann gehen gewisse Sachen nicht mehr. Am Ende der Ausbildung hat sich auch schon abgezeichnet, was in mir ist, also physisch: wie ich mich bewege und wie ich dann auch arbeite und was damit wegfällt. Ich bin nicht sehr dynamisch, meine Stärke liegt nicht in den dynamischen Tricks. Es hat dazugehört, das zu verabschieden und das auch okay zu finden. So ein Groove kommt doch immer auf, wenn es einen Pot gibt von verschiedenen Menschen, die sich treffen und dann vergleicht man sich. Aber es ist wichtig, da durchzugehen. Und trotzdem heisst das nicht, neue Dinge nicht lernen und entdecken zu können.
Ich bin froh, dass ich beides kenne: in einer Gruppe und alleine performen. In einer Gruppe teilt man die Verantwortung, aber es bedeutet auch künstlerischer Kompromiss. Damit der Kompromiss nicht zu gross und das Stück am Ende stimmig ist, braucht es ganz viele Gesprächsstunden und Vertrauen in die andere künstlerische Position. Wenn ich alleine arbeite, sind diese beiden Themen auch dabei. Es spiegelt sich dann aber auf mich selbst zurück, das ist die Herausforderung. Sie liegt aber auch im Vertrauen, wird das eigentlich etwas? Sich das selber zu fragen und sich im Kreis zu drehen ist auch herausfordernd. Gleichzeitig gibt es Freiheiten, von wegen: genau dieses Kostüm will ich, genau so muss es sein – und es dann einfach zu machen. Es befruchtet mich sehr, in beiden Formen zu arbeiten. Denn nur Solo, das wäre nicht ich. Deshalb habe ich auch zwei Tätigkeiten. Ich brauche das Verschiedene.
Bei der Grafik gibt es immer ein Medium, das zwischen dem Menschen und dem, was kreiert wird, eine Verbindung schafft. Im Zirkus bin ich das Tool und das ist so anders, das ist so direkt. Bis ich das realisiert habe, hat es einen Moment gedauert, aber es war eine schöne Erfahrung. Das hat schlussendlich auch viel mit Bühnenpräsenz zu tun. Die Grenzen zu spüren, manchmal darüber zu gehen, aber auch zu lernen, sie einzuschätzen. Auch Schmerz und Schmerzempfinden ist ein grosses Thema im Zirkus, das ist halt einfach so. Irgendwann ist die Haut überstrapaziert, dann sind die Hände offen, oder alles ist offen. Oder du hast deine Mens oder der:die Lehrer:in triggert dich oder nervt dich oder macht dich traurig. Und da geht es um dich und in der Grafik geht es um das, was du kreiert hast.
Die Zirkusszene ist eigentlich relativ klein, dafür ist sie sehr direkt. «Teilen» spielt nach meinem Empfinden eine grössere Rolle als in der Designszene. Ich finde es sehr schön, aktiv diese Energien vom Zirkus in die Grafik mitzunehmen.
Was ich mag
«If So Whenever Maybe After» am 17. Juni im Theater am Gleis, Winterthur
«Schichten» von FelberWey: am 22. und 23.6. am cirqu‘ Aarau
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